VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 11.04.2005 - 3 B 297/05 - asyl.net: M6676
https://www.asyl.net/rsdb/M6676
Leitsatz:

1. Das öffentliche Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs einer asylbedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG muss über das allgemeine Interesse an dieser Maßnahme hinausgehen. Es setzt über die aufgrund summarischer Prüfung gewonnene Erkenntnis, dass der Widerruf offensichtlich rechtmäßig ist, im Einzelfall und nach gegenwärtiger Sachlage einen dringenden unverzüglichen Handlungsbedarf voraus.

2. Der Widerruf einer asylbedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG verfehlt ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht ihren zuwanderungsbegrenzenden Zweck, denn die rechtsgestaltende Wirkung dieser Verfügung tritt nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unbeschadet der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs ein. Ein besonderes öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht daher nicht schon unter diesem Gesichtspunkt.

3. Ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung eines Widerrufs einer asylbedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis ergibt sich regelmäßig auch nicht daraus, dass der Ausländer staatliche Sozialleistungen bezieht, wenn er derartige Leistungen langjährig auch schon während der Geltung seines asylbedingten Aufenthaltstitels bezogen hat.

4. Als Streitwert im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO betreffend die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen einen kraft behördlicher Anordnung sofort vollziehbaren Widerruf einer Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG ist je Antragsteller der volle Auffangwert von 5.000,-- Euro anzusetzen.

 

Schlagwörter: D (A), Widerruf, Aufenthaltserlaubnis, Asylberechtigte, Sofortvollzug, Öffentliches Interesse, Lebensunterhalt, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 52 Abs. 1; AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2; AufenthG § 84 Abs. 2 S. 1; VwVfG § 43; AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

1. Das öffentliche Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs einer asylbedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG muss über das allgemeine Interesse an dieser Maßnahme hinausgehen. Es setzt über die aufgrund summarischer Prüfung gewonnene Erkenntnis, dass der Widerruf offensichtlich rechtmäßig ist, im Einzelfall und nach gegenwärtiger Sachlage einen dringenden unverzüglichen Handlungsbedarf voraus.

2. Der Widerruf einer asylbedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG verfehlt ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht ihren zuwanderungsbegrenzenden Zweck, denn die rechtsgestaltende Wirkung dieser Verfügung tritt nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unbeschadet der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs ein. Ein besonderes öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht daher nicht schon unter diesem Gesichtspunkt.

3. Ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung eines Widerrufs einer asylbedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis ergibt sich regelmäßig auch nicht daraus, dass der Ausländer staatliche Sozialleistungen bezieht, wenn er derartige Leistungen langjährig auch schon während der Geltung seines asylbedingten Aufenthaltstitels bezogen hat.

4. Als Streitwert im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO betreffend die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen einen kraft behördlicher Anordnung sofort vollziehbaren Widerruf einer Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG ist je Antragsteller der volle Auffangwert von 5.000,-- Euro anzusetzen.

(Amtliche Leitsätze)

 

Das erforderliche und in den Regelfällen des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Widerrufsentscheidung ist gegenwärtig nicht gegeben. Dieses Interesse muss bei belastenden Verwaltungsakten, die durch Beendigung eines Aufenthaltsrechts gravierend in Schicksal und Lebensplanung von Ausländern eingreifen, über das allgemeine Interesse an dieser Maßnahme hinausgehen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. 7.1973 - 1 BvR 23/73 - und - 1 BvR 155/73 -, BVerfGE 35, 382, und Kammerbeschluss vom 25.1.1995 - 2 BvR 1179/95 -, InfAuslR 1995, 397 - zur Ausweisung -) und konkret festgestellt werden (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 13.3.1997 - 13 S 1132/96 -, VBIBW 1997, 390 = InfAuslR 1997, 358). Zu dieser Kategorie aufenthaltsbeendender Verwaltungsakte gehört auch der Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 AufenthG. Diese Regelung ist in ihren belastenden Wirkungen mit der nachträglichen Fristverkürzung eines Aufenthaltstitels nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vergleichbar. Strukturell haben beide Regelungen Wesentliches gemeinsam. Auch beim Widerruf ergibt sich die Dringlichkeit einer Vollziehung nicht schon daraus, dass diese Maßnahme ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung von vornherein ihren Zweck verfehlt. Denn sie ist, wie die nachträgliche Befristung, kein Instrument zur Gefahrenabwehr, sondern bringt das den aufenthaltsrechtlichen Regelungen des Aufenthaltsgesetzes zugrunde liegende allgemeine öffentliche Interesse an der Begrenzung der Zuwanderung von Ausländern zur Geltung, die die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht (mehr) erfüllen. Dieser Zweck wird indessen weitgehend auch trotz der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs erfüllt. Denn die Wirksamkeit des den rechtmäßigen Aufenthalt beendenden Widerrufs wird durch Widerspruch und Klage nicht berührt, unbeschadet deren aufschiebender Wirkung (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse der Antragsteller sind daher seit der Bekanntgabe der Widerrufsverfügung vom 23.2.2005 auch ohne Anordnung der sofortigen Vollziehung wirksam beendet (§§ 43 Abs. 1 und 2 VwVfG, 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) und die Antragsteller sind seither nach § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet. Eine aufenthaltsrechtlich unerwünschte rechtliche Verfestigung des weiteren Aufenthalts im Bundesgebiet könnte daher, sofern nicht der Widerruf durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung aufgehoben wird (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG), nicht eintreten (vgl. hierzu VGH Mannheim, Beschluss vom 13.3.1997, a.a.O.). Dass die Ausreisepflicht bei Anfechtung der Widerrufsentscheidung wegen § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Regelfall nicht vollziehbar und die Verlassenspflicht damit nicht mit Zwangsmitteln durchsetzbar ist, hat der Gesetzgeber hingenommen; dies zeigt ein Vergleich mit der Regelung bei Ablehnung der Erteilung oder Verlängerung eines Antrags auf einen Aufenthaltstitel, wo Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben (vgl. § 84 Abs. 1 Nr.1 AufenthG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO).

Aus dem dargelegten Regelungsgefüge folgt, dass es vorliegend eines über die (selbst offensichtliche) Rechtmäßigkeit des Widerrufs hinausgehenden sonstigen Sofortvollzugsinteresses bedarf, das im Einzelfall und nach gegenwärtiger Sachlage einen dringenden unverzüglichen Handlungsbedarf voraussetzt (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 11.2.2005 - 11 S 1170/04 -, zum besonderen Sofortvollzugsinteresse bei der nachträglichen Befristung der Aufenthaltserlaubnis vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 25.1.1996 - 2 BvR 2718/95 -; AuAS 1996, 62). Ein derartiges Interesse an der sofortigen Ausreise der Antragsteller vermag die Kammer gegenwärtig nicht zu erkennen. Die Antragsteller sind nicht straffällig geworden, sondern leben sozial angepasst und unauffällig. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Zeitraum bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung besteht daher ersichtlich nicht. Ein besonderes Bedürfnis, dass die Antragsteller bis zur Entscheidung in dem für ihr weiteres Schicksal bedeutsamen Klageverfahren 3 A 296/05 das Bundesgebiet verlassen müssen, ist derzeit nicht ersichtlich. Dieses Bedürfnis lässt sich auch nicht allein aus wirtschaftlichen Gründen herleiten. Denn der Umstand, dass die Antragsteller auf (zumindest ergänzende) staatliche Sozialleistungen angewiesen sind, weil ihr Lebensunterhalt - trotz bestehender Arbeitswilligkeit und ergänzender Unterstützung ihrer hier lebenden Kinder - nicht ausschließlich aus Eigenmitteln gesichert werden kann, hat bereits vor dem Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse bestanden. Auch generalpräventive Erwägungen (Gewährleistung einer durchgehenden Behördenpraxis im Sinne schneller Aufenthaltsbeendigung nach Widerruf asylbezogener Aufenthaltstitel zur Verhinderung unerwünschter Einwanderung) rechtfertigen die sofortige Vollziehung der Widerrufsentscheidung nicht, nachdem die Zuwanderung hierfür geeigneter Ausländer nach der ab dem 1.1.2005 geltenden Rechtslage im öffentlichen Interesse partiell erleichtert werden soll.