VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 10.05.2005 - 23 B 05.30185 u. a. - asyl.net: M6781
https://www.asyl.net/rsdb/M6781
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Christen, Konventionsflüchtlinge, Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Änderung der Sachlage, Machtwechsel, Anschläge, Übergriffe, Kriminalität, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Religiös motivierte Verfolgung, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Drei-Jahres-Frist, Ermessen, Situation bei Rückkehr, Menschenrechtswidrige Behandlung, Auslegung, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Fortbestehende Schutzbedürftigkeit, Sicherheitslage, Versorgungslage, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: AufenthG § 60; AufenthG § 60a; AsylVfG § 42; AsylVfG § 73; AsylVfG § 73 Abs. 2a; GFK Art. 1 C Nr. 5
Auszüge:

Der Widerruf der Feststellungen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG findet seine Rechtsgrundlage in § 73 Abs. 1 AsylVfG.

Die Kläger haben nach Überzeugung des Senats zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak in Folge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Änderung der Verhältnisse keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG. Auch soweit § 60 Abs. 1 AufenthG die Voraussetzungen für den Abschiebungsschutz politisch Verfolgter weiter fasst als die Vorgängerregelung in § 51 Abs. 1 AuslG, wirkt sich dieser übergreifende Schutz nicht zu Gunsten der Kläger aus.

Wegen ihrer Asylanträge und ihrer illegalen Ausreise drohen den Klägern mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen im Irak. Wie den allgemein zugänglichen Medien und den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen zu entnehmen ist, hat das bisherige Regime Saddam Husseins durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA seine politische und militärische, Herrschaft über den Irak endgültig verloren.

Mit der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung seiner Machtstrukturen ist eine asylrelevante Verfolgung irakischer Staatsangehöriger durch dessen Regime nicht mehr möglich.

Nach Überzeugung des Gerichts werden die Kriegsalliierten im Verbund mit der irakischen Regierung in überschaubarer Zeit die Errichtung eines neuen irakischen Regimes ähnlich dem des gestürzten Machthabers Saddam Hussein, wo rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte missachtet wurden, nicht zulassen. Mit hinreichender Sicherheit ist ausgeschlossen, dass sich eine Staatsgewalt neu etablieren könnte, von welcher Irakern in Anknüpfung an das gegen das untergegangene Regime von Saddam Hussein angeblich gerichtete eigene Tun Übergriffe drohten.

Allerdings sind im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen ist die allgemeine Sicherheitslage nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 hochgradig instabil geworden, was auch Anfang Juli 2004 zum Erlass eines Notstandsgesetzes führte. Ziel dieser Anschläge einer irakischen Guerilla sind nicht nur die irakischen Regierungsorgane und die Koalitionstruppen, sondern auch alle Einrichtungen und Personen, die mit der irakischen Regierung und den von den USA geführten Koalitionstruppen zusammen arbeiten oder in den Verdacht einer solchen Zusammenarbeit geraten. Dabei werden nicht nur Mitglieder der Regierung, Provinzgouverneure, UN-Mitarbeiter und Angehörige ausländischer nichtstaatlicher Organisationen und Firmen ins Visier genommen, sondern auch Angehörige der irakischen Streitkräfte und der irakischen Polizei (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.11.2004; Deutsches Orient-Institut - DOI - vom 31.1.2005 zu Asylverfahren irakischer Staatsangehöriger mit christlicher Religionszugehörigkeit). Selbst Bewerber um Arbeit bei der Verwaltung und in den Sicherheitsdiensten werden nicht verschont. Neben den Religionsgemeinschaften der Christen treffen solche Anschläge auch Schiiten und Sunniten (vgl. SZ vom 1.3., 23.2., 21.2., 14.2. und 4.5.2005; NZZ und FAZ jeweils vom 21.4.2005). Nicht nur irakische Christen werden wegen ihrer Religionszugehörigkeit als "Handlanger der amerikanischen Streitkräfte" angesehen (DOI a.a.O.; UNHCR zu Asylverfahren irakischer Staatsangehöriger christlicher und mandäischer Religionszugehörigkeit vom 22.11.2004), sondern auch und vermehrt Bewerber und Anwärter für den öffentlichen Dienst (SZ vom 1.3.2005). Ziel dieser in ihrer Intensität zunehmenden Anschläge ist es, Furcht und Schrecken zu verbreiten, Gewalttätigkeiten verschiedener irakischer Bevölkerungsgruppen gegeneinander zu provozieren und das Land insgesamt zu destabilisieren (Auswärtiges Amt vom 2.11.2004, DOI vom 31.1.2005, jeweils a.a.O.).

Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen sind die Übergriffe gegenüber Christen nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG begründen könnten (so auch OVG Rheinland-Pfalz vom 24.1.2005 Az. 10 A 10001 / 05.OVG).

Die nach ihrem Vortrag unverfolgt ausgereisten Kläger - der Kläger zu 1 ist nach seinen Bekundungen im Oktober 2000 Opfer eines Raubüberfalls geworden - haben nach Überzeugung des Senats zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak infolge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderung der Verhältnisse eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 60 Abs.5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht zu befürchten, auch nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit. Staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Christen sind nach der Auskunftslage nicht ersichtlich. Daher kann schon nicht § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zur Anwendung kommen. Denn unmenschliche Behandlungen im Sinne dieser Vorschrift setzen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur Misshandlungen durch staatliche Organe voraus (BVerwG vom 17.10.1995 BVerwGE 99, 331).

Zu einer Änderung seiner Rechtsprechung sah sich das Bundesverwaltungsgericht auch nicht durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes veranlasst, vielmehr betonte es in seinem Urteil vom 15.4.1997 (BVerwGE 104, 265 = NVwZ 1997, 1127 = DVBI 1997, 1384 = InfAuslR 1997, 341), dass landesweit drohende unmenschliche oder erniedrigende Strafen oder Behandlungen grundsätzlich vom Abschiebezielstaat ausgehen oder von ihm zu verantworten sein müssen. Ausnahmsweise können auch Misshandlungen durch Dritte eine solche Behandlung darstellen, sofern sie dem Staat zugerechnet werden können, weil er sie veranlasst, bewusst duldet oder ihnen gegenüber keinen Schutz gewährt, obwohl er dazu in der Lage wäre. Dem Staat können ferner solche staatliche Organisationen gleichstehen, die den jeweiligen Staat verdrängt haben, selbst staatliche Funktionen ausüben und auf ihrem Gebiet die effektive Staatsgewalt haben (BVerwG vom 15.4.1997 a.a.O. m.w.N.; vgl. nunmehr auch § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Verfolgungen durch solche Organisationen sind jedoch nicht gegeben.

Das Aufenthaltsgesetz brachte gegenüber dem bisherigen Ausländergesetz insoweit keine Veränderungen der Rechtslage. Der Wortlaut des § 53 Abs. 4 AuslG wurde unverändert in § 60 Abs. 5 AufenthG übernommen. Hätte der Gesetzgeber eine Ausweitung der Abschiebungshindernisse im Rahmen dieser Vorschrift beabsichtigt, hätte er deren Wortlaut ändern und anders fassen müssen. Dieses unterblieb jedoch.

Soweit die Klagepartei sich wegen des ihrer Ansicht nach fehlenden Wegfalls der Verfolgungsgefahr durch eine grundlegende und dauerhafte Änderung der Umstände im Herkunftsland auf Art. 1 C Nr. 5 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) beruft, verkennt sie, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dem Ausländer; dessen Asylanerkennung mangels gegenwärtiger Verfolgungsbetroffenheit nicht in Betracht kommt, Schutz vor existenzbedrohenden wirtschaftlichen Notlagen bei Rückkehr ins Heimatland nach allgemeinem Ausländerrecht (Gestattung weiteren Aufenthaltes) zu gewähren ist (BVerwG v. 31.1.1989, BVerwG 9 C 43.88, Buchholz 412.25 § 1 AsylVfG Nr. 103). Zu diesem Schutz wurden in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG Abschiebungshindernisse vorgesehen, deren Voraussetzungen hier nicht vorliegen.

Auch die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Irak, der die Kläger bei Rückkehr in ihr Heimatland ausgesetzt wären, begründet keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG. Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 (Az. I A 2-2084.20-13) die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger ausgesetzt und verfügt, dass auslaufende Duldungen bis auf Weiteres um sechs Monate verlängert werden. Die Konferenz der Länderinnenminister hat wiederholt, zuletzt am 19. November 2004, die Einschätzung des Bundes geteilt, dass ein Beginn von zwangsweisen Rückführungen in den Irak nicht möglich ist (vgl. u.a. Asylmagazin 2004/12 S. 17). Demzufolge wurde auch in Bayern die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger weiterhin ausgesetzt (vgl. u.a. Schreiben des Bayer. Staatsministeriums des Inneren vom 10.2.2005 und 30.4.2004). Damit liegt eine Erlasslage im Sinne des § 60 a AufenthG vor, welche dem betroffenen Ausländer derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt, so dass den Klägern nicht zusätzlich Schutz vor der Durchführung der Abschiebung, etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren wäre (zu § 53 Abs. 6 AuslG vgl. BVerwG vom 12.7.2001 NVwZ 2001, 1420 = DVBl 2001, 1531 = InfAuslR 2002, 48).

lm Übrigen ist nichts dafür ersichtlich, dass für die Kläger eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder für Freiheit besteht (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG), kehrten sie derzeit in den Irak zurück. Die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in diese Rechtsgüter zu werden, genügt nicht für die Annahme einer solchen Gefahr. Verlangt ist vielmehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines solchen Eingriffs, mithin das Vorliegen einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation (BVerwG vom 17.10.1995 BVerwGE 99, 331 = BayVBI 1996, 216 = DÖV 1996, 250 = DVBl 1996, 612). Daran fehlt es hier.

Der am 1. Januar 2005 in Kraft getretene § 73 Abs. 2 a AsylVfG steht der Rechtmäßigkeit der vor diesem Zeitpunkt erlassenen Widerrufsbescheide nicht entgegen. Das Bundesamt hat bezüglich der Widerrufe zu Recht eine Rechts- und keine Ermessensentscheidung getroffen. Denn die Voraussetzungen für eine Anwendung des § 73 Abs. 2 a AsylVfG lagen im Zeitpunkt seiner Entscheidungen noch nicht vor.

Die gesetzlichen Neuregelungen haben zur Folge, dass die Prüfungen, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme nach § 73 Abs. 1 oder Abs. 2 AsylVfG vorliegen, in allen Anerkennungsverfahren spätestens bis zum Ablauf der Drei-Jahres-Frist nach Bestandskraft der Entscheidung (in am 1. Januar 2005 bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren bis 1. Januar 2008) zu erfolgen haben.

Erst durch eine solche Prüfung, die ohne Erlass eines Widerrufs- oder Rücknahmebescheid endet, kann die Rechtsfolge des § 73 Abs. 2 a Satz 3 AsylVfG, nämlich das Treffen einer Ermessensentscheidung im Widerrufs- oder Rücknahmeverfahren, in Zukunft ausgelöst werden (so auch BayVGH vom 25.4.2005 Az. 21 ZB 05.30260).