LG Göttingen

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Zitieren als:
LG Göttingen, Beschluss vom 20.06.2005 - 11 T 9/05 - asyl.net: M6833
https://www.asyl.net/rsdb/M6833
Leitsatz:

Die gerichtliche Haftanordnung kann zwar unter Zuhilfenahme eines Formulars erfolgen, muss jedoch erkennen lassen, welche Feststellungen das Gericht der Entscheidung zu Grunde legt und welche einzelfallbezogenen Umstände zu Bejahung der Haftvoraussetzungen geführt haben.

 

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Vorbereitungshaft, Sicherungshaft, Haftanordnung, Begründung, Formular, Textbausteine, Richtervorbehalt, Akteneinsicht, Sachaufklärungspflicht
Normen: GG Art. 104 Abs. 2; FGG § 12; AufenthG § 62 Abs. 2
Auszüge:

Die gerichtliche Haftanordnung kann zwar unter Zuhilfenahme eines Formulars erfolgen, muss jedoch erkennen lassen, welche Feststellungen das Gericht der Entscheidung zu Grunde legt und welche einzelfallbezogenen Umstände zu Bejahung der Haftvoraussetzungen geführt haben.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Der Beschluss des Amtsgerichts ist zwar bezogen auf die Darlegung der Erfüllung der Haftvoraussetzungen zu beanstanden; er ist jedoch wirksam und im Ergebnis zutreffend.

a) Der angefochtene Beschluss leidet unter mehreren erheblichen Mängeln. So fehlt es an einer Darlegung, warum das Amtsgericht an Stelle der beantragten Vorbereitungshaft die Sicherungshaft angeordnet hat. Fehlerhaft ist ferner die Formulierung betreffend den Haftbeginn, da gegen den Betroffenen weder Untersuchungs- noch Strafhaft vollstreckt wird. Im Übrigen wäre die gewählte Formulierung ("oder") auch im Falle eines gegenwärtigen strafprozessualen Haftvollzuges zu unbestimmt und missverständlich; erforderlich wäre dann zudem - was das Formular des Amtsgerichts nicht vorsieht - eine genaue Bezeichnung der für den Beginn maßgeblichen anderweitigen Haftanordnung in der Beschlussformel oder zumindest in den Beschlussgründen (Kammer, Beschl. v. 18. Mai 2005, 11 T 7/05).

Ferner ist die inhaltliche Begründung der Haftanordnung unzureichend. Die sich aus Textbausteinen zusammensetzende Entscheidungsbegründung lässt neben konkreten Feststellungen zur Person und zum ausländerrechtlichen Status des Betroffenen insbesondere Ausführungen dazu vermissen, warum das Amtsgericht einen "begründeten Verdacht" sieht, der Betroffene wolle sich der Abschiebung entziehen.

In diesem Zusammenhang merkt die Kammer an, dass die Zuhilfenahme eines Formulars bei der Abfassung des Beschlusses als solche nicht zu beanstanden ist. Der Beschluss muss jedoch erkennen lassen, welche Feststellungen das Amtsgericht seiner Entscheidung zugrundelegt und welche einzelfallbezogenen Umstände zur Bejahung der Anordnungsvoraussetzungen geführt haben. Diesen Anforderungen genügt der angefochtene Beschluss nicht. Das vom Amtsgericht verwendete Formular, das keinerlei Freiraum für einzelfallbezogene Ergänzungen enthält, lässt besorgen, dass eine eigenverantwortliche umfassende richterliche Prüfung zur Erfüllung der Rechtsschutzfunktion des Richtervorbehalts gem. Art. 104 Abs. 2 GG nicht stattgefunden hat (vgl. BVerfG, SW 2003, 203, zu formularmäßig gefassten Durchsuchungsbeschlüssen).

Dies betrifft auch den Haftgrund der vollziehbaren Ausreisepflicht aufgrund einer unerlaubten Einreise. Soweit der Amtsrichter bei den Haftgründen den entsprechenden Textbaustein zu § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG abgekreuzt hat, hat er damit zwar hinreichend deutlich angegeben, dass er von einer unerlaubten Einreise des Betroffenen in das Bundesgebiet ausgeht. Das mag für sich gesehen insbesondere dann, wenn der Betroffene die unerlaubte Einreise selbst einräumt, auch ausreichen. Die Beschlussgründe lassen jedoch nicht erkennen, ob der Haftrichter § 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG beachtet hat. Zwar ist im Beschluss angegeben, es läge ein begründeter Verdacht i.S.v. § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG vor. Eine nähere Begründung fehlt jedoch; der Textbaustein ist insoweit inhaltsleer. Zudem fehlen im Hinblick auf § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG Ausführungen dazu, von welcher (Mindest-)Dauer bis zur Abschiebung das Amtsgericht im Falle uneingeschränkter Kooperation des Betroffenen ausgeht.

Auch haben dem Amtsgericht offenkundig nicht die Akten der Ausländerbehörde vorgelegen, was im Hinblick auf § 12 FGG für die Beschlussfassung geboten ist (siehe dazu Beichel-Benedetti/Gutmann, NJW 2004, 3015). Der Umstand, dass das Amtsgericht über den Haftantrag der jeweiligen Ausländerbehörde wegen Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG zumeist sehr schnell entscheiden muss, ändert nichts an dem Gebot umfassender richterlicher Sachverhaltsermittlung. Sollte die Ausländerbehörde die Akten nicht zeitgleich mit ihrem Antrag vorlegen können, steht dies einer Haftanordnung nicht notwendigerweise entgegen. In einer solchen Situation ist aber regelmäßig nur eine einstweilige Anordnung (§ 11 FreihEntzG) zu treffen und der Ausländerbehörde Gelegenheit geben, innerhalb eines festzusetzenden kurzen Zeitraums die Ausländerakten vorzulegen.