VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 08.02.2005 - 4 E 3390/03.A - asyl.net: M6871
https://www.asyl.net/rsdb/M6871
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Albaner, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Konventionsflüchtlinge, Machtwechsel, Darlegungserfordernis, Zumutbarkeit, Rückkehr, Zwingende Gründe, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; AsylVfG § 73 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

Ausgehend davon hat die Beklagte die mit Bescheid vom 15.06.1999 zugunsten der Klägerin getroffene Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 AuslG, nunmehr § 60 Abs. 1 AufenthG, zu Recht widerrufen.

Gemäß § 73 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei dem Merkmal der "zwingenden, auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründe" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der gerichtlich voll überprüfbar ist und die Berücksichtigung humanitärer Gründe zulässt. In Betracht kommen ausschließlich Gründe, die ihre Ursache in einer früheren Verfolgung haben; damit soll der psychischen Sondersituation Rechnung getragen werden, in der sich ein Asylberechtigter befindet, der ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und dem es deshalb selbst lange Jahre danach ungeachtet der veränderten Verhältnisse nicht zumutbar ist, in den Verfolgerstaat zurückzukehren (vgl. Hailbronner, a. a. O., Rdnr. 73 mit Rechtsprechungsnachweisen). Dabei ist es im Rahmen der Anwendung der Regelung unerheblich, ob eine tatsächliche Rückkehrmöglichkeit besteht: Es kommt insofern allein auf die Zumutbarkeit der Rückkehr an. Entscheidend ist, ob sich der Flüchtling auf qualifizierte Gründe berufen kann, die eine Rückkehr in den Herkunftsstaat objektiv unzumutbar erscheinen lassen. Dabei ist jedoch auch die subjektive Sichtweise des politisch Verfolgten - und damit dessen psychische Situation - zu berücksichtigen (vgl. Hailbronner, a. a. O., Rdnr. 30 ff. m. w. N.).

Unter Berücksichtigung dessen erweist sich eine Rückkehr der Klägerin nicht als im Sinne des § 73 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG unzumutbar.

Dieser Einschätzung legt der Einzelrichter die Annahme zugrunde, dass die Klägerin gegenwärtig aufgrund der mit Bescheid des Bundesamtes vom 16.03.2004 während des laufenden Klageverfahrens getroffenen positiven Entscheidung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) ohnehin vor einer Abschiebung nach Serbien und Montenegro (Kosovo) geschützt ist. In der Begründung des betreffenden Bescheids heißt es dazu, gemäß des nunmehr vorgelegten Gutachtens der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie ... vom 13.08.2003 leide die Klägerin an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung. Das attestierte Krankheitsbild könne in der Heimat der Klägerin derzeit nicht adäquat behandelt werden. Selbst dann, wenn die Klägerin in Serbien und Montenegro sofort und unverzüglich ausreichende fachärztliche Hilfe erhalte, sei nach den Ausführungen auf Seite 4 des genannten Gutachtens die Gefahr schwerster Retraumatisierung gegeben und die Klägerin müsse aufgrund der Rückkehrsituation mit großer Wahrscheinlichkeit mit schwersten Gesundheitsschäden rechnen (vgl. dazu Seite 2 des Bescheids, Blatt 29 der Gerichtsakte). Bezieht man diesen Aspekt in die im Rahmen des § 73 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG vorzunehmende Bewertung mit ein, so kommt eine Rückführung der Klägerin in das Kosovo ohnehin nur unter der Maßgabe in Betracht, dass sich ihr Gesundheitszustand aufgrund einer Überwindung der Traumatisierungsfolgen - ggf. begünstigt durch die der Klägerin im Bundesgebiet zur Verfügung stehenden Therapieangebote - in einer Weise stabilisiert hat, nach der eine Rückkehrgefährdung der vom Bundesamt in vorgenanntem Bescheid beschriebenen Art nicht mehr als gegeben angesehen werden kann. In dieser Situation stünde § 73 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG einer Rückkehr der Klägerin in den - ehemaligen - Verfolgerstaat aber mit Blick auf die im Kosovo ab etwa 1999 eingetretene tatsächliche Entwicklung nicht mehr entgegen. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, stellt die Volksgruppe der Albaner, der auch die Klägerin angehört, im Kosovo inzwischen wieder die Mehrheit dar. Von ca. 900.000 kosovo-albanischen Flüchtlingen ist der größte Teil wieder in das Kosovo zurückgekehrt. Soweit nach der Rückkehr der Albaner in das Kosovo dort Ausschreitungen zu verzeichnen waren, richteten sich diese nunmehr gegen die Angehörigen der Minderheiten in dieser Region (insbesondere Serben und Roma), die beschuldigt werden, die serbische Staatsmacht bei deren Unterdrückungsmaßnahmen während des jugoslawischen Bürgerkrieges unterstützt zu haben (vgl. etwa AA, ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo) vom 27.11.2002). Angehörige dieser Minderheiten werden im Kosovo nunmehr diskriminiert, schikaniert und eingeschüchtert. Ihnen wird der Zugang zu öffentlichen Diensten und Leistungen verwehrt, so dass sie an einzelnen Orten fast abgeschnitten von der Außenwelt leben müssen. Die in diesen Enklaven lebenden Serben waren auch von den ab dem 17.03.2004 - für die Sicherheitskräfte überraschend - ausgebrochenen massiven Unruhen - und Ausschreitungen im Kosovo besonders betroffen (vgl. dazu UNHCR vom 30.03.2004; Gesellschaft für bedrohte Völker vom 30.03.2004). Hieraus entnimmt der Einzelrichter, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in das Kosovo nicht etwa gewärtigen müsste, serbischen Milizionären, Militärkräften oder auch nur Angehörigen der serbischen Volksgruppe im Alltag zu begegnen und mit solchen Personen umgehen zu müssen. Sie träfe vielmehr auf ein rein albanisch geprägtes Umfeld, was neben dem privaten und öffentlichen Leben auch die Besetzung hoheitlicher Positionen, öffentlicher Ämter u. ä. betrifft. Eine hinreichende Stabilisierung des Gesundheitszustandes der Klägerin vorausgesetzt, erscheint dies zumutbar, anders als dies beispielsweise für den Fall anzunehmen wäre, dass die Heimatregion der Klägerin zwar zwischenzeitlich befriedet, indes nach wie vor serbisch dominiert wäre.