VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 09.06.2005 - 5a K 2432/00.A - asyl.net: M6873
https://www.asyl.net/rsdb/M6873
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsstopp, Erlass, Innenministerkonferenz, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Existenzminimum, Alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Situation bei Rückkehr, Alleinstehende Frauen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Den Klägerinnen ist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des AufenthG zuzubilligen.

Derzeit existiert kein rechtsverbindlicher Erlass, der den Ausländerbehörden eine Abschiebung afghanischer Flüchtlinge zwingend verbietet. Es gibt lediglich einen Beschluss der Innenministerkonferenz, wonach mit der Rückführung afghanischer Flüchtlinge noch nicht begonnen werden solle. Diesem Beschluss kommt jedoch keine bindende Wirkung zu, was zur Folge hat, dass Abschiebungen theoretisch durchgeführt werden könnten. Der Beschluss hat lediglich die Funktion eines faktischen Abschiebestopps, solange die Ausländerbehörden sich im Sinne dieses Beschlusses verhalten. Auch wenn den Klägerinnen somit momentan nach Beendigung des Asylverfahrens wegen dieses faktischen Abschiebestopps nach Afghanistan, der einer tatsächlichen Unmöglichkeit einer Abschiebung vergleichbar ist, eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG erteilt werden müsste, steht ihnen ein schützenswertes Interesse an der begehrten Verpflichtung des Bundesamtes zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Denn die auf Grund einer derartigen Feststellung erteilte Duldung verschafft ihnen eine bessere Rechtsstellung, da die Ausländerbehörde an diese Feststellung bis zu ihrem Widerruf oder ihrer Aufhebung gebunden ist, § 42 Satz 1 AsylVfG. Dagegen könnte die Ausländerbehörde eine Duldung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung bei geänderten Verhältnisse jederzeit widerrufen, § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG (Vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001 - 1 C 2/01 -, NVwZ 2001, 1420 = DVBl 2001, 1531 = InfAuslR 2002, 48, und - 1 C 5/01 -, DVBl 2001, 1772 = NVwZ 2002, 101 = InfAuslR 2002, 52 (zum Rechtsschutzbedürfnis), und vom 07. September 1999 - 1 C 6.99 -, NVwZ 2000, 204 (zur Bindungswirkung) und Beschluss vom 11. Mai 1998 - 9 B 409.98 -, InfAuslR 1999, 525; Hamburgisches OVG, Urteil vom 22. Januar 1999 - 1 Bf 550198.A -, InfAuslR 1999, 443; VG Leipzig, Urteil vom 27. August 2002 - A 4 K 31167/97).

Nach diesen Grundsätzen führt allein die allgemeine schlechte wirtschaftliche und soziale Lage in Afghanistan nicht zur Annahme eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Die Gefahren für die dortige Bevölkerung haben sich hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen nicht in einem Maße verdichtet, dass allgemein für die gesamte Bevölkerung von einer extremen Gefahrenlage auszugehen wäre. Die Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit ist nicht für alle derart hoch, dass die Frage des Abschiebungsschutzes in Abweichung von §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a Abs. 1 AufenthG verfassungskonform nur nach Satz 1 der Vorschrift zu bewältigen wäre.

Auch hinsichtlich der sonstigen Lebensbedingungen kann keine der gesamten Bevölkerung drohende Existenzgefährdung angenommen werden. Zwar ist die Bevölkerung weitgehend verarmt und lebt am Rande oder zum Teil sogar unterhalb des Existenzminimums. Die Arbeitslosigkeit ist mit einer Quote von 70 % bis 80 % extrem hoch; die Aussicht, Arbeit zu finden, ist gering. Die medizinische Versorgung, insbesondere auf. dem Land ist schlecht, da viele Medikamente entweder gar nicht oder allenfalls zu unerschwinglichen Preise zu erhalten sind. Die Mieten für Wohnraum sind in letzter Zeit geradezu explodiert und für den weitaus größten Teil der Bevölkerung nicht bezahlbar (Vgl. Danesch, Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 22. April 2004 und vom 03. November 2004; UNHCR, Aktualisierte Darstellung der Lage in Afghanistan von September 2003).

Trotzdem ist eine das Überleben breiter Bevölkerungskreise bedrohende Unterversorgung mit den lebensnotwendigen Gütern trotz immer wieder auftretender Engpässe nicht zu erwarten. Durch die traditionell stark ausgeprägte Einbindung des Einzelnen in die Familien- und Stammesstrukturen, die in Afghanistan quasi das soziale Netz darstellen (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 22. April 2004 und vom 03. November 2004), sowie den Einsatz von ausländischen Hilfsorganisationen konnte die Versorgung mit dem zum Überleben Notwendigsten bisher selbst in den Wintermonaten einigermaßen gewährleistet werden.

Dagegen besteht für die Gruppe von Rückkehrern, die - wie die Klägerinnen - nicht in bestehende Familien- oder Stammesstrukturen zurückkehren können, eine derartig extreme Gefahrenlage, dass § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Handhabung einer Abschiebung entgegensteht. Lediglich weiter bestehende starke Familien- und Stammesbindungen können das zum Leben notwendige Existenzminimum gewährleisten (Vgl. Orient-Institut, Gutachten an Sächs. OVG vom 23. September 2004; Danesch, Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004).

Das erfordert für eine zurückkehrende Person neben dem Bestehen einigermaßen intakter Familien- und Stammeszusammenhänge ("qwalm") und Bindungen im entsprechenden Landesteil die Bereitschaft der Familie und des Stammes, den Rückkehrer wieder in ihre Strukturen aufzunehmen (Vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 23. März 1999 und vom 16. Juni 1998, Auskünfte an das VG Hamburg vom 19. Januar 2000 und an das VG Koblenz vom 24. Februar 1998).

Danach erscheint eine Rückkehr von Afghanen aus dem Ausland nur möglich, wenn sie in die frühere Heimat des Rückkehrers führt, wo Freunde oder Verwandte ihnen bei den ersten Schritten zum Wiederaufbau einer wirtschaftlichen Existenz helfen können. Die ansonsten bestehende existenzgefährdende Lage der Rückkehrer ohne Familien- und Stammesbindungen kann nicht durch Hilfsorganisationen aufgefangen werden.

Afghanische Behörden stellen eine Versorgung der Bevölkerung weiterhin nicht hinreichend sicher, so dass sich Rückkehrer ohne familiäre Unterstützung oder Stammesunterstützung die lebensnotwendigen Güter nur beschaffen können, wenn sie die notwendigen Geldmittel besitzen. Die Beschaffung von Geldmitteln in Afghanistan ist angesichts der katastrophalen Lage auf dem Arbeitsmarkt für Rückkehrer nahezu ausgeschlossen. Es besteht mit etwas Glück allenfalls die Möglichkeit, sich als Bauarbeiter zu verdingen. Mit dem vom "Ministerium für Rückkehrer" gezahlten Startgeld in Höhe von 120 Dollar können viele Flüchtlinge nicht rechnen, da bei der Verteilung sehr strenge Kriterien angelegt werden, so dass nur ein Bruchteil der Rückkehrer einen Anspruch darauf hat. Die Masse der Flüchtlinge ist auf sich alleine gestellt. Das liegt daran, dass das Startgeld nur den sog. Hilfsbedürftigen zuteil wird; Rückkehrer aus dem europäischen Ausland gelten dabei nicht als hilfsbedürftig, weil bei ihnen pauschal angenommen wird, dass sie finanziell besser gestellt seien. Sie bekommen allenfalls sporadisch etwas Mehl, Reis oder trockenes Brot. Selbst wenn es einem Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland gelingen sollte, die einmalige Hilfszahlung in Höhe von 120 Dollar zu erhalten, so ist in Rechnung zu stellen, dass dieses Geld angesichts der enormen gestiegenen Kosten für die Sicherung des Lebensunterhaltes in Afghanistan nur für kurze Zeit ausreichen wird. Wer zudem noch auf lebensnotwendige Medikamente angewiesen ist, für den verschärft sich die Situation auf Grund der hohen Kosten für die Arzneimittel (vgl. Danesch, Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004).

Nach den von den Klägerinnen in ihrem Asylverfahren und in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben und dem durch die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel vermittelten Bild über die Geschehnisse und Zustände in Afghanistan steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerinnen bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan keine existierenden Familienstrukturen mehr vorfinden werden und auch nicht in etwaigen Stammesstrukturen Aufnahme finden können.

Hinzu kommt, dass es für sie als Frauen bzw. Mädchen nahezu unmöglich ist, sich in Afghanistan als Rückkehrerinnen eine eigene Existenz aufzubauen. Da allein schon im Hinblick auf das derzeitige Aufenthaltsrecht ihres Ehemannes/Vaters keine Rückkehr im Familienverbund im Raum steht, gehören sie als alleinstehende Frauen bzw. jugendliche Mädchen zu einer sogenannten Risikogruppe, der im Hinblick auf die derzeit in Afghanistan immer noch bestehende von den Männern dominierte Gesellschaftsordnung eine eigene Sicherung des Existenzminimums nicht möglich sein dürfte (Vgl. Danesch, Gutachten an das Sächs. OVG vom 24. Juli 2004 und an das VG Hamburg vom 08. Juli 2004; Deutsches Orient-Institut, Gutachten an das Sächs. OVG vom 23. September 2004; UNHCR, Stellungnahme zur Frage der Flüchtlingseigenschaft afghanischer Asylsuchender von April 2003/Juli 2002).