VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 24.06.2005 - 9 B 04.30824 - asyl.net: M6887
https://www.asyl.net/rsdb/M6887
Leitsatz:
Schlagwörter: Eritrea, Zeugen Jehovas, religiös motivierte Verfolgung, Gruppenverfolgung, Glaubwürdigkeit, Religiöses Existenzminimum, Drittstaatenregelung, Luftweg
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 2
Auszüge:

Die Beklagte ist zu verpflichten, bei den Klägern das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen und auch festzustellen, dass die Kläger nicht nach Eritrea abgeschoben werden dürfen.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ist davon überzeugt, dass die Klägerin die eritreische Staatsangehörigkeit besitzt und der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehört.

Auch die von ihr vorgetragene Verfolgungsgeschichte, wonach sie u.a. am ... Dezember 2002 für einige Tage von der Polizei gefangen gehalten wurde und am ... September 2003 nur knapp einer erneuten Verhaftung entging, ist glaubhaft. Sie wurde in beiden gerichtlichen mündlichen Verhandlungen ohne Widerspruch und ohne Steigerung in Einzelheiten geschildert. Die Klägerin konnte dabei auch auf kritische Nachfragen prompt und überzeugend antworten. Die Klägerin machte dabei den Eindruck einer in ihrem Gottvertrauen ruhenden Persönlichkeit.

Die Verfolgungsgeschichte stimmt auch mit den in die Gerichtsverfahren eingeführten Auskünften und Berichten überein: Nach dem Dekret des eritreischen Präsidenten vom 25. Oktober 1994 und der Bekanntmachung des eritreischen Innenministeriums vom 1. März 1995 (Anlage zur Auskunft des UNHCR an das VG Darmstadt vom 18.7.2002) nimmt der eritreische Staat den Zeugen Jehovas übel, dass sie nicht am Unabhängigkeitskrieg teilgenommen haben, dass sie sich nicht am Referendum über die Loslösung Eritreas von Äthiopien im Frühsommer 1993 beteiligten, dass sie den Nationalen Dienst ablehnen, dass sie sich angeblich weigerten, den eritreischen Staat anzuerkennen, d.h., dass sie insgesamt den Geboten ihres Gottes mehr gehorchen als den Gesetzen des eritreischen Staates. Die Toleranz des Staates habe ihre Grenzen erreicht und die Zeugen Jehovas könnten deshalb nicht länger staatsbürgerliche Rechte genießen.

Infolge dieser Erlasse wurden und werden Zeugen Jehovas in Eritrea nicht in den Staatsdienst aufgenommen bzw. sie werden aus ihm entlassen, sie erhalten keine bzw. verlieren staatliche Wohnungen, ihre Kinder dürfen keine staatlichen Schulen besuchen, Geschäftslizenzen wurden ihnen entzogen, sei erhalten keine ID-Karten (vergleichbar Personalausweisen), Reisepässe, Lebensmittelmarken oder jegliche sonstige staatliche Dienstleistungen. In der staatlichen Radio- und Fernsehpropaganda wird gegen sie gehetzt. Private Arbeitgeber und Wohnungsgeber werden aufgefordert, Zeugen Jehovas keine Arbeit und keine Wohnung zu geben. Wenn sie es gleichwohl tun, haben sie staatliche Nachteile zu befürchten. Entsprechend schwierig ist es für Zeugen Jehovas deshalb private Arbeit und private Wohnungen zu finden. Die Sicherheitskräfte haben die öffentlichen Gottesdienste der Zeugen Jehovas überfallen und die Gläubigen festgehalten und gezwungen, ihrer Religion abzuschwören (Institut für Afrika-Kunde - IAK - an VG Würzbug vom 8.2.1996; UNHCR an BAFl vom 25.6.1996; ai an VG Würzburg vom 27.6.1996; AA an VG Stuttgart vom 21.11.1997; US Dept. of State Annual Report an International Religious Freedom for 1999 - Eritrea -; Wachturm an VG Köln vom 7.12.1999; Zeugen Jehovas an VG Köln vom 27.2.2000; IAK an VG Kassel vom 19.1.2001; AA an VG Kassel vom 8.3.2001; ai an VG Kassel vom 20.8.2001; Zeugen Jehovas an VG Wiesbaden vom 18.10.2001; UNHCR an VG Darmstadt vom 18.2.2002; European Comission, Eurasil, UNHCR guidelines to the eligebility of asylum seekers from Eritrea, November 2002; AA an VG Aachen vom 31.3.2003; IAK an VG Aachen vom 15.7.2003; vgl. auch Urteil des BayVGH vom 24.2.2000 Az. 9 B 96.35177).

Diese missliche Lage der Zeugen Jehovas hat sich seit etwa dem Jahr 2002 nochmals deutlich verschlechtert. Seit dieser Zeit sind Gottesdienste solcher Religionsgemeinschaften untersagt, die nicht seit mindestens 40 Jahren im Land aktiv sind. Seit 40 Jahren im Land aktiv sind nur die folgenden vier Religionsgemeinschaften: Die christlich orthodoxe Kirche, die sunnitische muslimische Religionsgemeinschaft, die römisch-katholische Kirche und die protestantische Kirche (Lutherischer Weltbund, denen auch die Anglikaner zugeordnet werden). Alle anderen Religionsgemeinschaften müssen sich erst registrieren lassen. Trotz Bemühungen ist es bisher noch keiner Religionsgemeinschaft gelungen, alle vom Staat für eine Registrierung vorgeschriebenen Unterlagen beizubringen. Die Zeugen Jehovas z.B. weigern sich, dem Staat die Listen mit den Namen und Adressen ihrer Mitglieder zu übergeben. Folglich wurde auch noch keine Registrierung vorgenommen. Bis zur Registrierung sind Aktivitäten der nicht registrierten kleineren Religionsgesellschaften weiterhin unzulässig (Lageberichte des AA vom 18.7.2003 S. 9 und vom 25.5.2004 S. 8).

Auch private Gebetszusammenkünfte in Privathäusern in kleinen Gruppen werden seither von den Sicherheitskräften aufgelöst, soweit sie ihnen bekannt werden. Die dabei ertappten Gläubigen werden vorübergehend verhaftet. Das Auswärtige Amt berichtet, dass die Anhänger der kleinen Glaubensgemeinschaften in der Haft gefoltert werden, um sie für ihre Zugehörigkeit zu diesen Religionsgemeinschaften zu bestrafen. "Andere sollen in Haft gezwungen worden sein, ihrem Glauben abzuschwören oder ihn nicht mehr zu praktizieren. Nur dann wurden sie freigelassen. Anderen Berichten zufolge sind Verwandte der Inhaftierten gezwungen worden, solche Erklärungen zu unterschreiben, wenn die Inhaftierten sich weigerten dies zu tun" (Lagebericht des AA vom 11.4.2005 S. 10; IAK an OVG Meck-Vorp. vom 9.10.2003; AA an OVG Meck-Vorp. vom 5.11.2003).

Es spricht viel dafür, dass diese Behandlung der Zeugen Jehovas durch den eritreischen Staat wegen ihrer Verfolgungsdichte eine Gruppenverfolgung im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 14.12.1995 DVBl. 1996,611) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. BVerwGE 96,2000) darstellt, weil auch das religiöse Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist (zum religiösen Existenzminimum vgl. z.B. BVerfG vom 1.7.1987 BVerwG 76,143 ff.). Diese Frage kann hier jedoch dahinstehen, weil der Senat der Klägerin aufgrund ihres überzeugenden Auftretens in der mündlichen Verhandlung glaubt, dass sie persönlich Opfer politischer Verfolgung war.

Nach dem - unter Verwendung der zur Verfügung stehenden und in das Verfahren eingeführten Auskünfte - beschriebenen Zustand des Verhältnisses des eritreischen Staates zu den Zeugen Jehovas ist es nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, das die vorverfolgte Klägerin zu 1 bei einer Rückkehr nach Eritrea wegen ihres Glaubens erneut politische Verfolgung erleiden wird. Sie ist deshalb als politischer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen.