VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 01.07.2005 - 6 E 1953/01.A (1) - asyl.net: M6911
https://www.asyl.net/rsdb/M6911
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Teilnehmer des ersten Tschetschenien-Krieges wegen Gefahr der Verhaftung; keine inländische Fluchtalternative in Russland, da landesweite Gefahr der Verhaftung und Misshandlung besteht und keine Registrierung tschetschenischer Binnenflüchtlinge möglich ist.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Verschulden, Fristversäumnis, Kämpfer (ehemalige), Übergriffe, Sicherheitskräfte, Filtrationslager, Fahndungslisten, Interne Fluchtalternative, Hinreichende Sicherheit, Festnahme, Existenzminimum, Registrierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Teilnehmer des ersten Tschetschenien-Krieges wegen Gefahr der Verhaftung; keine inländische Fluchtalternative in Russland, da landesweite Gefahr der Verhaftung und Misshandlung besteht und keine Registrierung tschetschenischer Binnenflüchtlinge möglich ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Im Übrigen liegt aber zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) vor.

Das erkennende Gericht geht aufgrund der Angaben des Klägers bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 22.02.2000 und in der mündlichen Verhandlung vom 01.07.2005 davon aus, dass der aus Tschetschenien stammende Kläger sich aktiv für die Unabhängigkeit Tschetscheniens eingesetzt hat. Während des ersten Tschetschenienkrieges hat der Kläger auf Seiten der Unabhängigkeitsbewegung an Kampfhandlungen gegen die Streitkräfte der Russischen Föderation teilgenommen.

Bei dieser Entwicklung der Verhältnisse in Tschetschenien seit dem Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges sind die Angaben des Klägers, er sei bei einer am 31.01.2000 in seinem Heimatort von russischen Militäreinheiten durchgeführten "Säuberungsaktion" als früherer Teilnehmer des ersten Tschetschenienkrieges (anhand einer dem Militär bekannten Fahndungsliste) ins Visier der russischen Sicherheitskräfte geraten, und einer der früheren Kampfgefährten, der aus dem gleichen Ort wie der Kläger stammte, sei von russischen Soldaten bei der Säuberungsaktion bereits erschossen worden, durchaus nachvollziehbar. Der in dieser Situation spontan gefasste Entschluss des Klägers, unterzutauchen und aus Tschetschenien zu fliehen, dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit das Merkmal der politischen Vorverfolgung erfüllen, weil bei dem Kläger in Anknüpfung an seine tschetschenische Volkszugehörigkeit und an seine Teilnahme am ersten Tschetschenienkrieg Maßnahmen wie die Verhaftung und Misshandlung oder gar Schlimmeres durch russische Sicherheitskräfte am 31.01.2000 unmittelbar bevorstanden. Die dem Kläger unmittelbar drohenden Maßnahmen stellten eine zielgerichtete politische Verfolgung dar. Die Maßnahmen sollten nicht nur aus straf- oder ordnungsrechtlichen Gründen, etwa zur Ahndung oder Abwehr terroristischer Handlungen des Klägers erfolgen. Sie sollten geschehen, um im Rahmen einer gezielten Politik des harten Vorgehens gegen ehemalige tschetschenische Rebellen und Widerstandskämpfer den Kläger in Anknüpfung an seine Volkszugehörigkeit Schaden zuzufügen. Die dem Kläger unmittelbar drohenden Maßnahmen sind im Rahmen der Verfolgungshandlungen zu sehen, die russische Soldaten und Sicherheitskräfte nach dem Ausbruch der erneuten Auseinandersetzungen mit tschetschenischen Rebellen an diesen sowie an mit diesen sympathisierenden Zivilisten in der Russischen Föderation begangen haben. Wie bereits erwähnt, berichtet das Auswärtige Amt auch im jüngsten Lagebericht - wir schon zuvor - von Übergriffen vor allem durch russische Militär- und Sicherheitskräfte bei der Durchführung von Säuberungsaktionen bis hin zu Exekutionen unter der Zivilbevölkerung (Auswärtiges Amt, Lagebericht Tschetschenien vom 16.0? 2004, S. 15; Lagebericht vom 27.1 1.2002, S. 11). Die drohenden Maßnahmen (Festnahme und Misshandlung) sind asylerheblich. Dem Kläger drohten körperliche Verletzung, Freiheitsberaubung oder gar der Tod. Dem Kläger droht auch derzeit im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien politische Verfolgung. Er ist aufgrund seiner Vergangenheit als aktiver Kämpfer im ersten Tschetschenienkrieg und als Unterstützer von Rebellen und tschetschenischen Flüchtlingen während des zweiten Tschetschenienkrieges offensichtlich in einer von den russischen Sicherheitskräften erstellten Fahndungsliste erfasst, und deshalb im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung.

Dem Kläger droht im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens mit hinreichender Sicherheit politische Verfolgung (§ 60 Abs. 1 AufenthG). Der Kläger ist als früherer tschetschenischer Widerstandskämpfer ins Visier der russischen Sicherheitsorgane geraten. Als solcher kann ihm nicht zugemutet werden, in Landesteile der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens auszuweichen. Dem Kläger droht landesweit die Verhaftung und Misshandlung durch Angehörige russischer Behörden. Eine inländische Fluchtalternative scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger außerhalb Tschetscheniens nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung ist. Denn ihm droht im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation politische Verfolgung, weil nicht mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, dass er wegen seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit eine zeitweise oder dauerhafte Registrierung erlangen und damit seine Existenzgrundlage sichern kann. Auch eine Registrierung als Binnenflüchtling und die damit verbundene Gewährung von Aufenthaltsrechten und Sozialleistungen wird in der Russischen Föderation laut Berichten von amnesty international und UNHCR regelmäßig verwehrt (Auswärtiges Amt, Lagebericht Tschetschenien vom 16.02.2004, S. 19). Dass der Kläger mit hinreichender Sicherheit in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht registriert wird, ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus der Darstellung des Registrierwesens im Lagebericht des Auswärtigen Amtes Tschetschenien vom 16.02.2004, S. 19. Danach wenden trotz der Systemumstellung viele Regionalbehörden der Russischen Föderation restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken an. Deshalb haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. Die amtliche Registrierung ist jedoch Grundvoraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen oder den Zugang zum kostenlosen Gesundheitssystem. Diese gesetzwidrige Praxis der russischen Behörden ist nicht nur auf die Ballungszentren in Moskau und Petersburg beschränkt, sie hat sich nach Überzeugung des Gerichts in jüngster Zeit auf das gesamte russische Staatsgebiet ausgeweitet (Auswärtiges Amt, Lagebericht Tschetschenien vom 16.02. und 13.12.2004). Die Aussage des Auswärtigen Amtes, Tschetschenen lebten außerhalb Tschetscheniens und Inguschetiens neben Moskau "vor allem in Südrussland", entbehrt einer tatsächlichen Grundlage. Darüber, wo genau in Südrussland tschetschenische Flüchtlinge ihre Registrierung finden können und ob diese Orte für sie dort das zum Leben Notwendige erlangen können, konnte das Auswärtige Amt auf Anfrage keine generelle Aussage machen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 19.01.2004 an OVG Rheinland-Pfalz). Es verfügt demnach über keine positiven Erkenntnisse darüber, wo Tschetschenen in Südrussland eine Registrierung und damit einen legalen Aufenthalt finden konnten bzw. heute finden könnten und ob und wie sie ohne Registrierung ihr wirtschaftliches Auskommen bzw. ihr Existenzminimum sichern können. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass eine Abschiebung über Moskau erfolgt, wo Tschetschenen seit Oktober 2002 verstärkt diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt sind (Auswärtiges Amt, Lagebericht Tschetschenien vom 16.02.2004, S. 20). Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes, der das erkennende Gericht folgt, mündet die intensive Fahndungstätigkeit russischer Sicherheitskräfte nach den Drahtziehern und Teilnehmern an terroristischen Gewaltakten automatisch in einer Diskriminierung kaukasisch aussehender Personen.

Die Verweigerung der zeitweisen oder dauerhaften Registrierung ist eine zielgerichtete Maßnahme in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale der tschetschenischen Volkszugehörigkeit, die dem russischen Staat zurechenbar ist.