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Zitieren als:
, Bescheid vom 01.07.2005 - 5140866-423 - asyl.net: M6927
https://www.asyl.net/rsdb/M6927
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Flüchtlingsfrauen, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Gruppenverfolgung, alleinstehende Frauen, Zwangsheirat, Glaubwürdigkeit, Krankheit, Abschiebungshindernis, medizinische Versorgung, Bekleidungsvorschriften, westliche Orientierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Antragstellerin hat auf Grund ihres weiblichen Geschlechts keine generelle landesweite Verfolgung zu befürchten.

Allerdings kann es auch in Kabul zu Übergriffen und Benachteiligungen von Frauen kommen. Es gibt Berichte über Vergewaltigungen von Frauen, Mädchen und Jungen durch bewaffnete Gruppen im Distrikt Paghman der Provinz Kabul. Nach Erkenntnissen von amnesty international soll es sexuellen Missbrauch von weiblichen Häftlingen in Gefängnissen in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul geben. In den genannten Städten würden Frauen auch wegen so genannter "Zina-Verbrechen", wie Ehebruch, "Weglaufen von zu Hause" und unehelichem Geschlechtsverkehr, inhaftiert und verfolgt. In anderen Gegenden würden solche Fälle nicht der Polizei gemeldet, sondern von der Familie geregelt, häufig durch Tötung der Betroffenen. Insgesamt bemängelt AI, dass Justiz und Polizei nach wie vor noch nicht in der Lage seien, Frauen entsprechend zu schützen (vgl. amnesty international vom 06.10.2003: Afghanistan: No justice and security for women; ASA 11/025/2003 und vom 28.10.2004: Afghanistan: Women failed by progress in Afghanistan; ASA 11/015/2004). UNHCR weist ebenfalls darauf hin, dass trotz ermutigender Fortschritte für die Lebensbedingungen der Frauen Diskriminierung und konservative kulturelle Gebräuche fortbestünden, die bisweilen zu Gewalttaten und sogar Tötungen führten. Vor diesem Hintergrund sieht UNHCR allein stehende Frauen ohne wirksame männliche Unterstützung und/oder Unterstützung der Gemeinschaft sowie Frauen, von denen angenommen werde, dass sie soziale Normen verletzten oder dies tatsächlich täten, als potenziell gefährdet an. Besonders betroffen könnten Frauen sein, die einen ausländischen, insbesondere einen nicht-muslimischen Mann geheiratet hätten und Frauen, bei denen die Annahme eines westlichen Lebensstiles ein solch wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden sei, dass es für sie eine Verfolgung bedeuten würde, diese Lebensweise unterdrücken zu müssen (UNHCR-Stellungnahme zur Frage der Flüchtlingseigenschaft afghanischer Asylsuchender vom Juli 2003).

Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin zu dem Kreis der besonders gefährdeten Personen zählen könnte. Die allgemeinen Einschränkungen, die von einschneidender und damit potenziell verfolgungsrelevanter Bedeutung waren, wie das Verbot der Ausbildung, der beruflichen Betätigung und die Gebote für das Auftreten außer Haus, sind - wie bereits dargelegt - formal außer Kraft. Die fortbestehende traditionelle Einstellung der Gesellschaft gegenüber Frauen stellt keine verfolgungsrelevante Beeinträchtigung dar. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 S. 4 a bis c AufenthG ist hierin nicht zu sehen. Allein der Umstand, dass die Antragstellerin in Afghanistan nicht so frei wie in Deutschland wird leben können, begründet noch keine Verfolgungsgefahr. Es ist einer afghanischen Staatsangehörigen in Afghanistan grundsätzlich zumutbar, die dort allgemein geltenden Vorschriften zu beachten, denn der Islam ist seit jeher die in Afghanistan vorherrschende Religion, deren Wertesystem insbesondere in den weit reichenden ländlichen Gebieten galt. Das gilt auch unabhängig davon, ob die Betroffene früher in Afghanistan oder nach ihrer Flucht in Deutschland von westlichen Idealen geprägt gelebt und diese verinnerlicht hat. Maßgeblich ist nicht die subjektive Sicht des einzelnen, sondern vielmehr ein objektiver Maßstab, der sich daran orientiert, was im Heimatland der Betroffenen als das herrschende Wertesystem anzusehen ist (vgl. VG Kassel, Urteil vom 22.07.2003, Az.: 3 E 2846/01.A). Insbesondere ist es einer Muslimin in Afghanistan zumutbar, die dort allgemein geltenden Bekleidungsvorschriften zu beachten (vgl. OVG Koblenz, Beschluss vom 17.05.2002, Az.: 6 A 10217/02.OVG).

Die asylrechtliche Beurteilung einer fremden Rechtsordnung kann nicht (allein) am weltanschaulichen Toleranz- und Neutralitätsgebot des Grundgesetzes gemessen werden, denn das Asylrecht hat nicht die Aufgabe, die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in anderen Staaten durchzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.12.1986, BVerwGE 74 S. 31, 37). Dies ist insbesondere in islamischen Ländern, wie Afghanistan, zu beachten, deren Recht durch die Scharia mitgeprägt ist und in denen Frauen traditionell in vielen Bereichen benachteiligt werden (vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2003, Az.: 1 Bf 104/01.A). Diese Rechtsprechung ist auf die Frage, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG vorliegt, übertragbar.

Aus der Gesamtschau der vorliegenden Erkenntnisse kann somit geschlossen werden, dass sich für Frauen keine Gefährdung ergibt, sofern sie sich im Großen und Ganzen an den Moralkodex halten (vgl. OVG Hamburg, Urteile vom 12.08.2003, Az.: 1 Bf 355100.A und vom 11.04.2003, Az.: 1 Bf 104/01.A; OVG Münster, Urteil vom 20.03.2003, Az.: 20 A 4270/97.A; VG Stade, Urteil vom 26.05.2004, Az.: 6 A 160/04).

Es liegt jedoch ein Abschiebungshindernis des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Afghanistan vor.

Der Unterzeichner gelangte zu der Auffassung, dass bei der deutlich vorgealterten 55 Jahre alten Antragstellerin eine erhebliche und konkrete Rückkehrgefährdung anzunehmen ist. Dies ergibt sich zum einen aus ihrer individuellen Situation, da sie als allein stehende Frau nach Afghanistan zurückkehren würde. Zu berücksichtigen ist auch, dass sie auf Grund der geltend gemachten Erkrankungen der medizinischen Versorgung bedarf. Auf Grund dieser Gesamtsituation kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin in der Lage ist, auf Dauer ihre Versorgung sicherzustellen, zumal sie dort keinerlei Rückhalt durch ihre Familie hat. Insoweit ist daher anzunehmen, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan alsbald nach ihrer Rückkehr schwerste Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit zu erwarten hätte.