VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 20.05.2005 - 9 K 7612/03.A - asyl.net: M6936
https://www.asyl.net/rsdb/M6936
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Kommunisten, DVPA, Khad, Mitglieder, Sippenhaft, Krankheit, Abschiebungshindernis, medizinische Versorgung, Situation bei Rückkehr, Versorgungslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass für ihn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - vorliegen.

Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen gehen von der Regierung Karzai derzeit regelmäßig keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr für die unter dem Regime der Taliban gefährdeten Bevölkerungsgruppen, insbesondere die ethnischen und religiösen Minderheiten aus, auch wenn traditionell bestehende Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien lokal in unterschiedlicher Intensität fortbestehen. Auch Personen, die der DVPA, dem Geheimdienst Khad oder den kommunistischen Streitkräften nicht in herausgehobenen Positionen angehört haben, droht derzeit keine politische Verfolgung durch die Regierung Karzai.

Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Im vorliegenden Fall spricht bereits vieles dafür, dass die Folgen der am 22.04.2004 bei dem Sturz erlittenen Verletzungen, deren Behandlung noch nicht abgeschlossen ist, ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG begründen. Der Kläger hat durch eine ärztliche Bescheinigung des Dr. med. ... den Umfang der erlittenen Verletzungen nachgewiesen und in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts die weitere Behandlungsbedürftigkeit und die bleibenden Folgen der Verletzungen dargelegt.

Für den Kläger kommt hinzu, dass er selbst bei dem Bestehen einer Behandlungsmöglichkeit in Afghanistan wegen der schweren bleibenden Beeinträchtigungen im Alltagsleben nicht in der Lage wäre, sich bei einer Rückkehr im Existenzkampf zu behaupten.

Zwar hat sich die Versorgungslage der Bevölkerung nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 02.12.2002, 06.08.2003, 22.04.2004 und 03.11.2004 in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten grundsätzlich verbessert, auch wenn wegen der hohen Preise nicht alle Bevölkerungsschichten von der verbesserten Lage profitieren. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit haben jedoch Personen, die nicht in noch bestehende Familien- oder Stammesstrukturen zurückkehren können, die ihnen bei einer Wiedereingliederung behilflich sind, in der Regel keine Möglichkeit, sich den Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten und sind auf die Unterstützung der Hilfsorganisationen angewiesen (vgl. Danesch vom 05.08.2002 und 23.09.2004 a.a.O. und Dr. Bernt Glatzer, Gutachten vom 26.08.2002 für VG Schleswig). Die UN und die ausländischen Hilfsorganisationen versorgen in ganz Afghanistan mehrere Millionen Afghanen, darunter viele Binnenvertriebene und Rückkehrer mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern (s.a. UNHCR Afghanistan aktuell vom 18.12.2002, 06.01.2003 und 18.08.2003). Dadurch stehen in den Großstädten genügend Lebensmittel zur Verfügung, so dass die Gefahr einer akuten Hungersnot nicht besteht. Durch die Hilfsorganisationen wird allerdings nur eine minimale Grundversorgung gewährleistet, wobei insbesondere für Rückkehrer angesichts der weitgehenden Zerstörungen der Bausubstanz zusätzlich das Problem besteht, eine adäquate Unterkunft zu erlangen (vgl. Danesch vom 05.08.2002 und 23.09.2004 a.a.O. und Glatzer vorn 26.08.2002 a.a.O., s.a. Deutsches Orient-Institut (Uwe Brocks), Gutachten vom 23.09.2004 für Sächsisches OVG). Selbst wenn damit für gesunde Rückkehrer eine gewisse Grundversorgung angenommen und eine unmittelbare Existenzgefährdung verneint werden kann, setzt dies voraus, dass die Betroffenen in der Lage sind, sich im Verteilungskampf um die Hilfsgüter zu behaupten. Nach Auffassung des Gerichts wäre der Kläger aufgrund seiner Beeinträchtigungen jedoch nicht in der Lage, eine ausreichende Berücksichtigung bei der Verteilung von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern zu erreichen. Er wäre daher bei einer Rückkehr in seiner Existenz unmittelbar gefährdet, so dass das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen ist.