VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 11.07.2005 - 9 A 272/04 MD - asyl.net: M6944
https://www.asyl.net/rsdb/M6944
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für syrischen Staatsangehörigen wegen Teilnahme an regimekritischer Demonstration in Deutschland; zum Ausschluss selbstgeschaffener Nachfluchtgründe.

 

Schlagwörter: Syrien, Folgeantrag, Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Situation bei Rückkehr, Demonstrationen, Internet, subjektive Nachfluchtgründe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für syrischen Staatsangehörigen wegen Teilnahme an regimekritischer Demonstration in Deutschland; zum Ausschluss selbstgeschaffener Nachfluchtgründe.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Nach Syrien abgeschobene Asylbewerber müssen sich bei ihrer Einreise Verhören durch syrische Sicherheitskräfte unterziehen. Diese allein sind zwar noch kein Anlass zur Annahme einer politischen Verfolgung. Eine Ausnahme besteht jedoch dann, wenn besondere Umstände hinzutreten, die geeignet sind, bei den syrischen Behörden den Verdacht zu begründen, dass sich die Betroffenen im Ausland gegen das syrische Regime politisch betätigt haben. Nach der Auskunftslage versuchen die syrischen Geheimdienste die exilpolitischen Organisationen und Persönlichkeiten in Deutschland auszuforschen (DOI an VG Wiesbaden vom 27.01.2003; Hajo/Savelsberg an VG Magdeburg vom 16.01.2005; AA an VG Magdeburg vom 09.08.2004), und es existieren Namenslisten über gesuchte Personen (AA an VG Magdeburg vom 09.08.2004). Zumindest bei öffentlichkeitswirksamen exilpolitischen Tätigkeiten gehen die dem Gericht vorliegenden Quellen übereinstimmend davon aus, dass die syrischen Geheimdienste diese Tätigkeiten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Kenntnis nehmen und die betreffende Person bei ihrer Rückkehr deshalb mit Repressionen rechnen muss (DOI an VG Wiesbaden vom 27.01.2003, S. 15; AA, LB. vom 13.12.2004, S. 18; Hajo/Savelsberg an VG Magdeburg vom 16.01.2005). Bei solchen Aktivitäten ist dem syrischen Geheimdienst gleichgültig, ob der Betreffende diese lediglich ausübt, um als Asylberechtigter oder politischer Flüchtling anerkannt zu werden (DOI an VG Wiesbaden vom 27.01.2003; Hajo/Savelsberg an VG Magdeburg vom 16.01.2005). Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger wegen seiner Teilnahme an der Demonstration in Berlin am 06.06.2005 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bei seiner Rückkehr nach Syrien mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Der syrische Geheimdienst hat mit hoher Wahrscheinlichkeit die Teilnahme des Klägers an dieser Demonstration zur Kenntnis genommen. Im Internet ist ein Bild, auf dem der Kläger als Teilnehmer der Demonstration zu erkennen ist, veröffentlicht. Das Internet bzw. diejenigen Seiten, die sich aus oppositioneller Sicht mit der Situation in Syrien beschäftigen, werden von den entsprechenden syrischen Stellen überwacht. Die syrische Regierung empfindet diese Websites als Gefährdung. Im 1. Kanal des syrischen Staatsfernsehens wurde diesen Internetseiten am 12.03.2004 sogar eine Mitschuld an den Märzunruhen in Syrien gegeben (Hajo/Savelsberg an VG Magdeburg vom 16.01.2005, S. 4). Im Falle des Klägers führt jedenfalls bereits die Teilnahme an dieser Demonstration zu Verfolgungsmaßnahmen, weil er aus Sicht der syrischen Behörden bereits zuvor durch sein umfangreiches und zumindest zum Teil öffentlichkeitswirksames exilpolitisches Engagement politisch auffällig geworden ist (vgl. Hajo/Savelsberg an VG Magdeburg vom 16.01.2005, S. 2).

Im Falle des Klägers kommt die Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG, wonach ein Ausländer im Asylfolgeverfahren Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr erhält, nicht zur Anwendung. Die mit dem Zuwanderungsgesetz eingeführte Vorschrift verfolgt den Zweck, Ausländern den Anreiz zu nehmen, nach abgeschlossenen Asylverfahren aufgrund neu geschaffener Nachfluchtgründe ein weites Asylverfahren zu betreiben, um damit zu einem dauernden Aufenthalt zu gelangen (BT-Drucksache 15/420, S. 109 f.). Aus der Begründung des Gesetzentwurfes folgt, dass mit der Regelung die sog. "asylunwürdigen" Verhaltensweisen der sog. "risikolosen Verfolgungsprovokation" aus dem sicheren Aufenthaltsstaat heraus getroffen werden sollen. Der betroffene Personenkreis soll zwar im Hinblick auf den weiter bestehenden subsidiären Schutz des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht schutzlos gestellt werden. Er soll jedoch in seinem aufenthaltsrechtlichen Status schlechter gestellt werden, weil derartige das Schutzbedürfnis hervorrufende Verhaltensweisen rechtspolitisch missbilligt werden. Wie bereits der Wortlaut der Vorschrift zeigt, soll das jedoch nicht für alle Fälle selbstgeschaffener Nachfluchtgründe gelten. Zu Gunsten des Ausländers, der sein Folgeantrag auf subjektive Nachfluchtgründe stützt, kann nur in der Regel keine Feststellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG getroffen werden. Von dieser Regel ist unter Berücksichtigung der systematischen Stellung des § 28 Abs. 2 AsylVfG zu § 28 Abs. 1 AsylVfG jedenfalls dann eine Ausnahme zu machen, wenn der Ausländer bereits im Erstverfahren exilpolitisch aktiv gewesen ist und das Erstverfahren lediglich deshalb erfolglos geblieben ist, weil seine damals gezeigte exilpolitische Betätigung lediglich ein niedriges Profil aufwies und er nach Abschluss seines ersten Asylverfahrens diese Betätigung fortgesetzt und mit der Folge gesteigert hat, dass nunmehr eine beachtlich wahrscheinliche Gefahr politischer Verfolgung besteht (vgl. hierzu: VG Göttingen, U. v. 02.03.2005, 4 A 38/03, Asylmagazin 2005, 37). Der Kläger ist bereits vor Abschluss des Erstverfahrens exilpolitisch tätig gewesen. Er hat an zwei Newrozfesten und an einer parteiinternen Veranstaltung teilgenommen. Diese politische Betätigung hat er nach Abschluss des Erstverfahrens fortgesetzt und - wie bereits ausgeführt - in erheblicher Weise gesteigert, so dass nunmehr eine beachtlich wahrscheinliche Gefahr politischer Verfolgung bei seiner Rückkehr nach Syrien besteht.