VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 14.07.2005 - A 6 K 1369/03 - asyl.net: M6967
https://www.asyl.net/rsdb/M6967
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für alleinerziehende Mutter und ihre Kinder wegen mangelnder Versorgungsmöglichkeit in der Demokratishen Republik Kongo; hohes Risiko der Malaria-Infektion und von Durchfallerkrankungen für Kinder bis 15 Jahre.

 

Schlagwörter: Demokratische Republik Kongo, Kinder, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Malaria, Durchfallerkrankungen, Medizinische Versorgung, Infektionsrisiko, Semi-Immunität, Situation bei Rückkehr, Alleinerziehende Frauen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für alleinerziehende Mutter und ihre Kinder wegen mangelnder Versorgungsmöglichkeit in der Demokratishen Republik Kongo; hohes Risiko der Malaria-Infektion und von Durchfallerkrankungen für Kinder bis 15 Jahre.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Bundesamt hat zu Gunsten der Beigeladenen zu Recht festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo vorliegen. Die Beigeladenen haben einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass in ihrem Fall die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG -, also nach der Rechtslage zum 01.01.2005, vorliegen. Insofern war die Klage des Bundesbeauftragten abzuweisen.

Die für die Beigeladenen zu 2) bis 4) bestehende beachtliche Wahrscheinlichkeit, aufgrund von ansteckenden Krankheiten - insbesondere Malaria und Durchfallerkrankungen - in Verbindung mit den in Kinshasa herrschenden hygienischen Verhältnissen alsbald lebensbedrohlich zu erkranken, stellt allerdings zusammen mit für die Beigeladenen zu 2) bis 4) vermutlich reduzierten Behandlungsmöglichkeiten eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar, die nicht nur theoretisch denkbar erscheint, sondern beachtlich wahrscheinlich ist.

Das Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder das Leben der Beigeladenen zu 2) bis 4) im Falle einer Abschiebung in die Demokratische Republik Kongo ist von einer Reihe von individuellen Faktoren abhängig. Der Grad der zu erwartenden Gesundheitsgefährdung ist u. a. vom Alter, etwaigen Vorerkrankungen, interpersonellen Unterschieden bei körpereigenem Immunschutz, den finanziellen Möglichkeiten in der Heimatregion sowie dem sozialen Milieu, wohin die Abgeschobenen zurückkehren, abhängig (so Gutachten von Dr. Ochel im Verfahren des VG Frankfurt, 4 E 30155198.A).

Die Kindersterblichkeit der in der Demokratischen Republik Kongo geborenen Kinder bis zu einem Alter von fünf Jahren liegt zwischen 20% und 25 %, wobei es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Sterbewahrscheinlichkeit nicht gibt. Ab dem Alter von ungefähr fünf Jahren sinkt die Sterbewahrscheinlichkeit bei Kindern ab und steigt dann ab dem frühen Erwachsenenalter, d.h. ab ungefähr 15 Jahren, wenn Jugendliche sexuell aktiv und mithin auch durch sexuell übertragbare Krankheiten wie HIV gefährdet sind, wieder leicht an. In den ersten fünf Jahren vollzieht sich nach dem o. g. Gutachten so etwas wie eine natürliche Auslese. Kinder, die sich in dieser Zeit einen gewissen Immunschutz erworben haben und mit den Folgen einer mangelnden Ernährung zurecht gekommen sind, haben deshalb ab dieser Zeit eine bessere Überlebenschance. Die von den überlebenden Kindern erworbene Semi-Immunität gegen eine Infektion mit Malaria-Erregern vermindert das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes im Hinblick auf die Malaria um ungefähr 30 %. In Wohngebieten in Kinshasa, in denen es keine Kanalisation gibt, sondern die Menschen eine Latrine aufsuchen müssen, wo sie sich regelmäßig mit Durchfallerregern anstecken, sind Kinder besonders gefährdet. Episoden von Durchfallerkrankungen sind im Kindesalter besonders häufig und bedrohen die Kinder stark, weil sie stark austrocknen. Man kann davon ausgehen, dass Kinder bis zum Alter von fünf Jahren ungefähr 20 lebensbedrohliche Durchfallinfektionen durchmachen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Krankheitsverlauf im Falle einer Infektion in den ersten fünf Lebensjahren komplizierter als bei den Eltern, älteren Kindern oder Erwachsenen ist. Das hängt damit zusammen, dass ihre Organe noch nicht ausgereift sind. Ferner darf nicht außer Acht gelassen werden, dass beispielsweise in Kinshasa höchstens 60 % der Bevölkerung mit Wasser versorgt werden kann, das in etwa Trinkwasserqualität aufweist.

Nun haben die Beigeladenen zu 2) bis 4) die kritische Altersgrenze von fünf Jahren zwar erreicht und die Annahme, dass eine schwere Malaria-Erkrankung in ganz jungen Jahren unbehandelt fast unweigerlich zum Tode führen müsste, ist nach dem Gutachten von Dr. Ochel wohl nicht gerechtfertigt.

Für die 12, 9 und 7 Jahre alten Beigeladenen zu 2) bis 4) ist allerdings zu beachten, dass diese über keinerlei graduellen durch Malaria-Infektionen bereits erworbenen Immunschutz verfügen, welche ihre kongolesischen Altersgenossen - sofern sie die kritische Zeit bis zum Alter von fünf Jahren überlebt haben - aufweisen. Im Übrigen ist zu beachten, dass die Beigeladenen als unter guten hygienischen Bedingungen aufgewachsene und hinreichend ernährte Rückkehrer in der Demokratische Republik Kongo in außergewöhnlich hohem Maße einer Ansteckung mit schweren Durchfallerkrankungen ausgesetzt wären. Das Gericht kann im Falle einer Rückkehr der Beigeladenen zu 2) bis 4) in die Demokratische Republik Kongo auch nicht ausschließen, dass diese nicht gezwungen sein könnten, in einem Slum zu wohnen, in dem die Trinkwasserversorgung nicht gewährleistet ist. Auch das Gutachten von Dr. Ochel kommt zum Ergebnis, dass die Unterschiede in den Altersgruppen zwischen fünf und 15 Jahren zwischen den im Lande lebenden und den zurückkehrenden Kindern deutlich gravierender ausfallen als die zwischen den Kindern bis zu fünf Jahren.

Das bedeutet, dass die zurückkehrenden Kinder über fünf Jahre zwar im Vergleich zu jüngeren Kindern ein ausgereiftes Immunsystem aufweisen, aber im Vergleich zu den Kindern in der Demokratischen Republik Kongo über fünf Jahre, deren Immunsystem ebenfalls ausgreift ist, ein deutlich größeres Gefährdungsrisiko im Hinblick auf eine schwerwiegende lebensbedrohliche Erkrankung vorhanden ist. Daher liegt auch bei den Kindern zwischen fünf und 15 Jahren, die in der Bundesrepublik Deutschland geboren sind, im Vergleich zu denjenigen zwischen 5 und 15 Jahren, die in der Demokratischen Republik Kongo geboren sind, im Hinblick auf ein Erkrankungsrisiko keine allgemeine Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor. Das Gericht geht also davon aus, dass eine typische aufgrund der gesundheitlichen Gefährdungen entstandene Gefahr für die Gruppe der Kinder zwischen 5 und 15 Jahren im Sinne einer allgemeinen, diese Bevölkerungsgruppe betreffende Gefahr nicht vorliegen kann.

Gleichwohl schätzt das Gericht aufgrund der beschriebenen Verhältnisse in der Demokratischen Republik Kongo im Zusammenhang mit den genannten persönlichen Verhältnissen der Beigeladenen zu 2) bis 4) das Risiko, dass die Beigeladenen zu 2) bis 4) die erste Zeit in der Demokratischen Republik Kongo nicht überleben würden, als unverantwortlich hoch ein.

Eine Abschiebung der Beigeladenen zu 2) bis 4) in die Demokratische Republik Kongo bedeutet für diese überdies, dass sie plötzlich aus all dem herausgerissen würden, was von ihrer frühesten Kindheit bzw. Geburt an ihr Leben geprägt und bestimmt hat. Im Übrigen ist auch darauf hinzuweisen, dass ein Erkrankungsrisiko - sei es an Malaria oder an einer anderen landesüblichen schweren Infektion - durch den Stress der Eingewöhnungszeit und der Abschiebung, insbesondere bei einem Kind, das ausschließlich mit den deutschen Verhältnissen vertraut ist und sich abrupt in einer völlig fremden Welt unter außergewöhnlich harten Lebensbedingungen wiederfindet, ansteigen wird. Gerade in dieser Zeit wird die Mutter der Beigeladenen ihren Kindern aber nicht ausreichend beistehen können, weil sie damit beschäftigt sein dürfte, sozial und wirtschaftlich ein lebensnotwendiges Minimum für sich und ihre Kinder zu erreichen.

Auch bezüglich der Beigeladenen zu 1) war die Beklagte in diesem Einzelfall zu verpflichten, das Vorliegen der Voraussetzungen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen. Aufgrund der Tatsache, dass die Beigeladene zu 1) den Lebensunterhalt für sich und ihre 7, 9 und 12 Jahre alten Kinder allein in Kinshasa erwirtschaften muss, geht das Gericht von einer hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer extremen Gefahrenlage auch für die Beigeladene zu 1) im Fall ihrer Abschiebung in die Demokratische Republik Kongo aufgrund der dort bestehenden Versorgungslage mit Lebensmitteln aus. Die Beigeladene zu 1) wird in diesem Falle der Gefahr des Todes oder schwerster Verletzungen aufgrund der Mangelernährung ausgesetzt. Das Gericht geht davon aus, dass auch in der Hauptstadt Kinshasa die Versorgungslage angespannt ist, das Gesundheitswesen sich in einem katastrophalen Zustand befindet und viele Menschen am Rande des Existenzminimums leben (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 28.05.2005 und 09.05.2005).

Auch nach der Rechtsprechung verschiedener Oberverwaltungsgerichte kann nach dem im Wesentlichen unveränderten Stand der angespannten humanitären Lage in Kinshasa eine extreme Gefahr für alleinstehende Mütter mit kleinen Kindern ohne weiteren Familienverband und ohne Erwerbschancen gesehen werden (vgl. OVG des Saarlandes, Urteile vom 03.12.2001, 3 R 4/01 und vom 14.01.2002 - 3 R 1/01 -, VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.11.2002 - A 6 S 967/01 -).