VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 09.06.2005 - 1 K 4558/03.A - asyl.net: M6992
https://www.asyl.net/rsdb/M6992
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Unterstützer der TKP/ML und von TIKKO; trotz Reformprozess keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung bei Rückkehr in die Türkei.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, TKP/ML, TIKKO, Unterstützer, Reformen, Folter, Haft, Sicherheitskräfte, Amtswalterexzesse, Politische Entwicklung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Unterstützer der TKP/ML und von TIKKO; trotz Reformprozess keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung bei Rückkehr in die Türkei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat zunächst Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG.

Aufgrund des von dem Kläger gewonnenen persönlichen Eindrucks nimmt das Gericht ihm ab, dass er jahrelang die TKP/ML bzw. die TIKKO durch logistische Hilfeleistungen (Transport von Lebensmitteln und Medikamenten, "Schleusen" von Kämpfern) unterstützt hat und kurz vor seiner Ausreise durch den Verrat eines Genossen das Augenmerk der türkischen Sicherheitskräfte auf sich gezogen hat. Daraufhin wurde nach dem Kläger gesucht.

Bei dieser Sachlage war die Flucht für den Kläger der sich ihm bietende einzige Ausweg aus der für ihn ansonsten ausweglosen Lage. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass Personen, die, wie der Kläger in der Türkei in den individualisierten Verdacht geraten, militant staatsfeindliche Bestrebungen wie diejenigen der TKP/ML bzw. TIKKO, einer linken, in der Türkei illegalen, dort als terroristisch eingestuften Organisation, die das Ziel verfolgt, das bestehende türkische Staatssystem durch eine bewaffnete Revolution abzuschaffen, um ein kommunistisches System mit maoistischer Prägung zu errichten (vgl. amnesty international, Auskunft vom 07. Februar 1997 an VG Koblenz; AA, Auskünfte vom 24. Januar 1997 an VG Koblenz und vom 02. März 1998 an VG Frankfurt/Oder, Aydin, Gutachten vom 29. März 2004 an VG Aachen; Verfassungsschutzbericht des Landes NRW über das Jahr 2003, Seite 166 ff.) aktiv zu unterstützen, nach wie vor Gefahr laufen, im Rahmen der Strafrechtspflege asylerheblich verfolgt oder von derartigen Polizeimaßnahmen betroffen zu werden. Eine durchgreifende Entspannung, die die Gefahr asylerheblicher Übergriffe der Sicherheitskräfte weitgehend ausschließen würde, ist nämlich gegenwärtig und auch für die absehbare Zukunft nicht festzustellen. Die Menschenrechtspraxis, insbesondere das Vorgehen von Polizei und Jandarma in Ostanatolien und in den Großstädten der Westtürkei, hat sich allerdings in den vergangenen Jahren verändert.

Die Asylerheblichkeit der Aktionen der Sicherheitskräfte kann nicht mit der Begründung verneint werden, es handle sich um Exzesstaten. Folter ist in der vorstehend beschriebenen geänderten Form noch derart weit verbreitet, dass von einer üblichen Praxis gesprochen werden muss, auch wenn dies erklärtermaßen den gesetzlicher und politischen Vorgaben widerspricht. Dass die vielfach noch anzutreffende menschenrechtswidrige Praxis der Sicherheitskräfte dem türkischen Staat zuzurechnen ist, folgt zudem daraus, dass der Staat als solcher - unabhängig von den Absichten und Zielen der gegenwärtigen Regierung - die Verantwortung für das Entstehen dieser Praxis trägt und noch keine ausreichenden Maßnahmen getroffen hat, den Missständen ein Ende zu setzen. Der türkische Staat hat in der Vergangenheit sogar die Instrumente, mit welchen die Folterungen begangen werden, aus seinem Haushalt finanziert und Einrichtungen unterhalten, die mit speziellen, der Misshandlung von Menschen dienenden Geräten ausgestattet waren.