VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 13.07.2005 - 8 UE 1219/04.A - asyl.net: M6993
https://www.asyl.net/rsdb/M6993
Leitsatz:

Gefahr der Folter und Todesstrafe in China für in Deutschland verurteilten Menschenschmuggler; zwischen dem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 besteht anders als bei § 53 AuslG kein Rangverhältnis.

 

Schlagwörter: China, Abschiebungshindernis, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Folter, Menschenrechtswidrige Behandlung, Straftat, Strafverfolgung, Todesstrafe, Doppelbestrafung, Willkür, Schlepper, Menschenhandel, Freiheitsstrafe, Gefängnis, Erpressung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51; ChStGB § 240; ChStGB § 318 Abs. 1
Auszüge:

Gefahr der Folter und Todesstrafe in China für in Deutschland verurteilten Menschenschmuggler; zwischen dem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 besteht anders als bei § 53 AuslG kein Rangverhältnis.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist auch begründet, denn zum für die vorliegende Verpflichtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats hat der Kläger einen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2, 5 und 7 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG -) in der Fassung des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950 ff., 1972), geändert durch Gesetz vom 14. März 2005 (BGBl. L S. 721).

§ 60 Abs. 2 ff. AufenthG entspricht im wesentlichen der bisher in § 53 des Ausländergesetzes - AuslG - getroffenen Regelung. Dabei geht der Senat nicht mehr - wie das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die Abschiebungshindernisse nach § 53 Absätze 1 bis 4 AuslG einerseits und § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG andererseits (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. März 1998 - 9 B 843/97 - juris, Urteile vom 15. April 1997 - 9 C 19/96 - BVerwGE 104, 260 ff. - juris, 28. April 1998 - 9 C 2/98 - juris, und vom 19. Mai 1998 - 9 C 5/98 - AuAS 1998, 224 =juris) - von einer Rangfolge der in § 60 Absätze 2 ff. AufenthG geregelten Abschiebungshindernisse aus. Denn durch das Zuwanderungsgesetz ist § 41 AsylVfG, der unter anderem die Wirkung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG auf drei Monate begrenzte, aufgehoben worden, so dass alle Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 ff. AufenthG die gleiche Wirkung haben.

Dem Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 AufenthG steht nicht entgegen, dass der Kläger nicht binnen der in § 51 Abs. 3 VwVfG geregelten Drei-Monats-Frist nach der rechtskräftigen Bestrafung mit Urteil des Landgerichts Hanau vom 5. Juni 2000, sondern erst mit Schriftsatz vom 8. März 2002, eingegangen bei dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 11. März 2002, die Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich der negativen Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG beantragt hat. Die in § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG getroffene Regelung, wonach auf Grund eines Folgeantrags ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen ist, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, betrifft nur das eigentliche Asylverfahren, nicht aber isolierte Entscheidungen über Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG bzw. nunmehr § 60 AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 - BVerwGE 114, 379 [388]). Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass Ansprüche auf Feststellung von Abschiebungshindernissen auch dann jederzeit geltend gemachten werden können, wenn sie bereits mit rechtskräftigen Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge bzw. nunmehr des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge abgelehnt worden sind.

Damit übereinstimmend hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg entschieden, das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sei auch für den isolierten Antrag zuständig, nach Abschluss eines Asylverfahrens erneut über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG 1990 zu entscheiden; einen Asylfolgeantrag müsse der Ausländer dazu nicht gestellt haben. Die Bescheidung des Antrags nach § 53 AuslG 1990 setze nicht voraus, dass sich die Rechtslage in einer § 51 Absätze 1 bis 3 VwVfG genügenden Weise- geändert habe (OVG Lüneburg, Urteil vom 1. März 2001 - 1 L 593/00 - AuAS 2001, 140 = juris).

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG liegen vor, da für den Kläger die Gefahr besteht, der Folter unterworfen zu werden. Abs. 3 der Vorschrift ist nicht erfüllt, denn diese Vorschrift setzt voraus, dass der Ausländer von dem Staat wegen einer Straftat gesucht wird, und hier liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger in China von den dortigen zuständigen Behörden gesucht wird. Abs. 4 scheitert daran, dass kein förmliches, auf den Kläger bezogenes Auslieferungsersuchen vorliegt. Abs. 5 ist erfüllt, denn zumindest wegen der Gefahr der Folter ist die Abschiebung aufgrund der Anwendung der Menschenrechtskonvention unzulässig.

Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Aus den im Berufungsverfahren eingeholten Auskünften und Stellungnahmen ergibt sich, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut wegen der bereits rechtskräftig durch das Landgericht Hanau abgeurteilten Straftaten strafrechtlich verurteilt werden wird, dass für ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Gefahr besteht, im Gefängnis der Folter unterworfen zu werden, und dass ebenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Gefahr besteht, dass gegen den Kläger die Todesstrafe verhängt und vollstreckt wird.

Die Würdigung der eingeholten Auskünfte und Stellungnahmen sowie der einschlägigen Quellen aus der den Beteiligten übersandten Liste der Erkenntnisquellen-China führt zu der Erkenntnis, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter und Todesstrafe drohen, wobei in Übereinstimmung mit Prof. Scheerer weniger auf die in Frage kommenden chinesischen Strafvorschriften als vielmehr auf die chinesische Strafpraxis und damit auf die mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich drohenden Gefahren abzustellen ist.

Schon die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 4. Oktober 2004 deutet auf eine erhebliche Gefährdung des Klägers hin. Es ist danach nicht auszuschließen, dass auch bei nicht aufgezählten besonders schweren Tatbeständen eine Verhängung der Todesstrafe in Betracht kommt. Die aufgelisteten Tatbestände sind relativ konkret. Andere besonders schwere Tatbestände werden hingegen vom Richter in freier Entscheidung festgestellt. Grundsätzlich kann die Todesstrafe bei Vorliegen mehrerer der aufgezählten Tatbestände verhängt werden. Alternativ kann sie auch verhängt werden, wenn einer der Tatbestände besonders hervorsticht, beispielsweise bei mehr als zehn Frauen und Kindern, bei ganz besonders hohem Gewinn sowie bei Wiederholungstaten. Danach besteht hier eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Todesstrafe verhängt wird. Denn der Kläger hat in arbeitsteiliger Zusammenarbeit mit chinesischen und vietnamesischen Mitgliedern einer international tätigen Schleusergruppe gruppenweise chinesische Staatsangehörige, die nicht über das für eine Einreise in die Bundesrepublik erforderliche Visum verfügten und über die tschechisch/deutsche Grenze und den Frankfurter Flughafen illegal in die Bundesrepublik geschleust worden waren, in Deutschland "in Empfang" genommen und zunächst bis zu deren geplanter Verteilung im Bundesgebiet unter Aufsicht des Klägers gegen ihren Willen festgehalten, bis der Schleuserlohn - pro Person zwischen 13.000 und 24.000 DM - bezahlt war. Die abgeurteilten Taten betrafen insgesamt 15 Personen. Es handelte sich um Männer und Frauen, wobei es allerdings nicht klar ist, ob mehr als 10 Frauen betroffen waren. Angesichts der Schwere der Taten sowie der planmäßigen Organisation und der Gewerbsmäßigkeit ihrer Begehung ist mit einer Verhängung der Todesstrafe zu rechnen. Das Auswärtige Amt hat selbst ausgeführt, andere besonders schwere Tatbestände würden vom Richter in freier Entscheidung festgestellt. Es mag zwar fraglich sein, ob der Tatbestand des § 240 StGB (CHN) erfüllt ist, das heißt hier, ob Frauen "zum Verkauf entführt" worden sind. Darunter ist eine Handlung zu verstehen, die darin besteht, eine Frau ohne deren Willen bzw. heimlich fortzubringen, gewaltsam zu entführen, anzukaufen, mit ihr Handel zu treiben, sie in Empfang zu nehmen oder sie wegzugeben, sie zu vermitteln oder weiterzuleiten. Jedenfalls wurden die chinesischen Frauen aber in Empfang genommen und es wurde insofern mit ihnen Handel getrieben, als sie nur gegen Zahlung einer hohen Geldsumme freigelassen wurden. Es spricht auch einiges dafür, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr nach China von den dortigen Behörden als Rädelsführer einer Bande angesehen wird, die Frauen zum Verkauf entführt.

Zusammenfassend kommt Professor Dr. Scheerer zu dem Ergebnis, es bestünden ernsthafte Gründe für die Annahme, dass dem Kläger auf Grund seiner konkreten Taten und ihrer Umstände sowie dem, was ihm daraus seitens der chinesischen Behörden zur Last gelegt und auferlegt werden dürfte, sowohl körperliche Misshandlungen als auch die Verhängung und der Vollzug der Todesstrafe drohten. Das Risiko sei real und von beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Dieser Einschätzung ist zu folgen.

Sie wird bestätigt durch in der Liste der Erkenntnisquellen-China aufgezählte Quellen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2004 (S. 33) wird die Todesstrafe immer noch exzessiv verhängt und vollstreckt, auch wegen nicht gewalttätiger Vergehen wie Eigentumsdelikten, Korruption oder Wirtschaftsvergehen. Es wird danach von Menschenrechtsorganisationen von unfairen, politisch beeinflussten und unangemessen kurzen Prozessen bei mangelhafter anwaltlicher Vertretung der Angeklagten berichtet. Vorgeschriebene Schritte der prozeduralen Rechtssicherung - wie die Bestätigung des Todesurteils durch eine höhere Instanz - erfolgten häufig nicht oder nur pro forma auf Provinzebene. Die Existenz von schwerwiegenden Folterfällen sei von chinesischen Stellen in der Vergangenheit offen eingestanden und als Gegenstand internationaler Menschenrechtsdialoge akzeptiert worden. Die Regierung versuche, insbesondere durch neue, strengere Gesetze Übergriffe von Polizei und Justiz abzustellen. So seien im Dezember 2003 zwei höhere Polizeibedienstete wegen Folter mit Todesfolge zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Aber auch hier seien Kontrollmöglichkeiten und Durchsetzungsfähigkeit der Zentralregierung in ländlichen Regionen und entfernten Provinzen beschränkt. Es seien keine Schritte erkennbar, die Ursachen der Folter anzugehen.