VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 27.06.2005 - A 4 K 10611/05 - asyl.net: M7030
https://www.asyl.net/rsdb/M7030
Leitsatz:

Keine nichtstaatliche Verfolgung von ethnischen Minderheiten im Kosovo; § 14 a Abs. 2 AsylVfG gilt auch für vor dem 1.1.2005 in Deutschland geborene Kinder.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Roma, Ashkali, Ägypter, UNMIK, KFOR, KPS, Märzunruhen, Antragsfiktion, Asylantrag, Anzeigepflicht, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, Vertrauensschutz, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Entscheidungszeitpunkt, offensichtlich unbegründet, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Altfälle
Normen: AsylVfG § 14a Abs. 2; AsylVfG § 30 Abs. 3; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine nichtstaatliche Verfolgung von ethnischen Minderheiten im Kosovo; § 14 a Abs. 2 AsylVfG gilt auch für vor dem 1.1.2005 in Deutschland geborene Kinder.

(Leitsatz der Redaktion)

 

In Anwendung dieser Grundsätze sind die Anträge unbegründet. Denn das Gericht hat keine ernstlichen Zweifel im beschriebenen Sinne daran, dass das Bundesamt den Asylantrag zurecht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat.

a) Es bestehen nicht bereits deshalb ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung, weil die Antragstellerinnen vor Erlass des Bescheids keinen Asylantrag gestellt hatten. Denn nach Überzeugung der Einzelrichterin ist der seit dem 1.1.2005 geltende § 14a Abs. 2 AsylVfG mit der Fiktion der Asylantragstellung für ledige, unter 16 Jahre alte Kinder von Asylbewerbern und ehemaligen Asylbewerbern auch auf solche Kinder anzuwenden, die vor dem 01.01.2005 ins Bundesgebiet eingereist oder hier geboren worden sind (a.A. VG Göttingen, B. v. 17.03.2005 - 3 B 272/05 -, AuAS 2005, 117; VG Braunschweig, B. v. 30.03.2005 - 5 B 260/05 -; VG Karlsruhe, B v. 19.04.2005 - A 11 K 10381/05 -; v. 29.04.2005 - A 11 K 10407/05 v. 01.06.2005 - A 11 K 10677/05 - und Urt. v. 07.06.2005 - A 11 K 10380/05 -).

Zunächst kann aus der Formulierung des § 14a Abs. 2 AsylVfG nicht gefolgert werden, dass diese Regelungen im Gegensatz zu sonstigen Änderungen (siehe unten zu § 26 AsylVfG) nicht auf Kinder von Asylbewerbern anzuwenden ist, die bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttreten des Gesetzes ins Bundesgebiet eingereist oder hier geboren worden sind. Das Gesetz verwendet nahezu durchgehend das Präsenz, ohne damit eine Differenzierung des zeitlichen Anwendungsbereichs vornehmen zu wollen.

Auch kann den oben zitierten Entscheidungen nicht gefolgt werden, soweit sie maßgeblich darauf abstellen, dass der damalige Präsident des VG Göttingen in seinem Bericht an den Präsidenten des Nds. OVG zu diesem Gesetzesantrag vom 14.04.2000 - Geschäfts-Nr.: 373/6 - zu Artikel 3 (Inkrafttreten) ausdrücklich festgestellt habe, ihm erschienen "Übergangsregelungen unverzichtbar" (Bericht S. 9). Beispielsweise sei "dringend regelungsbedürftig" (Bericht, a.a.O.), ob etwa die formellen Vorschriften dieses Gesetzes "ausnahmsweise, nur teilweise oder überhaupt nicht auch für Ausländer gelten sollen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingereist bzw. im Bundesgebiet geboren worden sind, für die aber bisher kein eigener Asylantrags gestellt worden ist (vgl. § 14a E-AsylVfG)". Denn unabhängig davon, ob solche Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren besondere Beachtung finden, spricht die Tatsache, dass der Bundesgesetzgeber trotz solcher Hinweise Übergangsvorschriften zu § 14a AsylVfG nicht getroffen hat, nach Ansicht der Einzelrichterin gerade dafür, dass die Regelung auch für die in dem zitierten Schreiben genannte Gruppe gelten sollte.

Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass die Vorschrift des § 14a Abs. 2 AsylVfG auf Kinder von Asylbewerbern und ehemaligen Asylbewerbern, die vor dem 01.01.2005 ins Bundesgebiet eingereist oder hier geboren worden sind, keine Anwendung finden sollte, hätte er eine entsprechende Übergangsregelung auch im Hinblick auf die weitere Anwendung des § 26 Abs. 2 AsylVfG a.F. erlassen.

Dieser Auslegung stehen auch Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht entgegen. Es ist dabei zunächst von einer unechten Rückwirkung auszugehen.

Nach diesen Grundsätzen handelt es sich hier lediglich um eine unechte Rückwirkung, die tatbestandlich an die Einreise oder Geburt nach der Asylantragstellung der Eltern angeknüpft. Diese ist unbedenklich, weil sie kein schutzwürdiges Vertrauen beeinträchtigt. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz geht nicht soweit, den Staatsbürger vor jeglicher Enttäuschung seiner Erwartung in die Dauerhaftigkeit der Rechtslage zu sichern (vgl. BVerfGE 68, 287 [307]). Die schlichte Erwartung, das geltende Recht werde unverändert fortbestehen, ist verfassungsrechtlich nicht geschützt (vgl. BVerfGE 38, 61 [83]; 68, 193 [222]; 105, 17 [40]).

Es bestehen auch im übrigen keine Bedenken gegenüber der Anwendbarkeit dieser Vorschrift. Insbesondere hat die Einzelrichterin keine Zweifel an deren Verfassungsmäßigkeit. Ein Eingriff in das negative Asylgrundrecht, von diesem Recht keinen Gebrauch machen zu müssen, wird durch die Regelung des § 14a Abs. 3 AsylVfG vermieden, wobei davon auszugehen sein wird, dass ein Verzicht auch ohne die ausdrückliche Erklärung, dass dem Kind keine politische Verfolgung droht, möglich sein wird. Dass das Kind in diesem Fall in einem künftigen Folgeverfahren mit Verfolgungsgründen ausgeschlossen ist, die schon zum Zeitpunkt des Verzichts vorlagen, berührt die negative Grundrechtsfreiheit nicht. Dies ist vielmehr die Konsequenz daraus, dass es verfahrensrechtlich nicht mehr die Möglichkeit hat, seinen Asylerstantrag zu einem beliebigen Zeitpunkt zu stellen. Das Asylgrundrecht vermittelt dem politisch Verfolgten aber keinen Anspruch darauf, den Zeitpunkt, in dem er sich gegenüber seinem Aufenthaltsstaat auf ihm in seinem Heimatland drohende Verfolgung beruft, frei zu wählen.

b) Es sprechen auch im übrigen keine erheblichen Gründe dafür, dass die Maßnahme des Bundesamtes einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht Stand hält, soweit es um Art. 16 a Abs. 1 GG und § 60 Abs. 1 AufenthG geht.

Anders als das Verwaltungsgericht Stuttgart (vgl. Urt. v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -) vermag das erkennende Gericht insbesondere nicht festzustellen, dass die KFOR, die Polizei der UNMIK und die Kosovo-Polizei (KPS) im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 4 c AufenthG erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens wären, Minderheitsangehörigen wie Roma, Ashkali, Ägyptern und anderen Schutz vor Verfolgung zu bieten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die internationalen Truppen während der Ereignisse im März 2004 den Schutz von Minderheiten, ihres Eigentums und der öffentlichen Einrichtungen nicht gewährleisten konnten (vgl. dazu UNHCR-Positionen vom 30.03. und 13.08.2004; Auswärtiges Amt v. 02.04.2004 an das Bundesamt: Kosovo, Bericht zu den Ereignissen im Kosovo zwischen dem 16. u. 19.03.2004; Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 24.05.2004: Kosovo, Update zur Situation der ethnischen Minderheiten nach den Ereignissen vom März 2004), ergibt sich nicht, dass zur Zeit eine Gefährdungslage für Angehörige von Minderheiten dergestalt fort besteht, bei einer Rückkehr in den Kosovo in die erhebliche Gefahr zu geraten, Opfer von von den staatlichen bzw. internationalen Organisationen nicht effektiv beherrschbaren Übergriffen zu werden. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 04.11.2004 haben die internationalen Kräfte die Lage im Kosovo wieder unter Kontrolle. So wurden mehr als 200 Personen nach den Unruhen vorläufig festgenommen, darunter auch führende Mitglieder des Veteranenverbandes der UCK. Die UNMIK-Police hat im Zusammenhang mit der Aufklärung des Tatgeschehens 100 Ermittler angefordert, von denen zwischenzeitlich 60 ihren Dienst aufgenommen haben, darunter auch zehn Beamte aus Deutschland. Über neue Vorfälle ist demgemäß auch nichts bekannt geworden. Angesichts dessen kann trotz der Heftigkeit, der Zahl der handelnden nichtstaatlichen Akteure und des Hintergrunds der Übergriffe vom März 2004 nicht von einem Wiederaufflammen der Unruhen in naher Zukunft und damit in dem für die Verfolgungsprognose maßgeblichen Zeitraum ausgegangen werden; die bloß theoretische Möglichkeit einer Verfolgung von Minderheiten genügt insoweit nicht.

Dieser Einschätzung stehen die Entscheidungen Verwaltungsgerichts Stuttgart und des VGH Baden-Württemberg (vgl. dazu VG Stuttgart, Beschluss vom 31.01.2005 - A 10 K 13481/04 - und VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 15.11.2004 - 7 S 1128/02 -, Asylmagazin 4/2005, S. 26), die sich ausschließlich auf die sich unmittelbar an die Vorgänge vom März 2004 anschließende Situation beziehen, nicht entgegen. Ob die Lage unmittelbar nach den März-Unruhen, also im April oder Mai 2004, anders zu beurteilen gewesen wäre, bedarf jedoch vorliegend, da es auf den Entscheidungszeitpunkt ankommt, keiner weiteren Vertiefung.

Schließlich deutet auch nichts darauf hin, dass die internationalen Organisationen (UNMIK, KFOR) in absehbarer Zukunft vorhätten, ihr Engagement unter "Zurücklassung" der Minderheiten im Kosovo und eines entsprechenden Machtvakuums beziehungsweise sogar unter Wiedereinsetzung der serbischen Institutionen zu beenden.