VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 27.07.2005 - 6 E 2472/02.A - asyl.net: M7243
https://www.asyl.net/rsdb/M7243
Leitsatz:

Gefahr der Verfolgung für Kurden aus der Türkei, der trotz Freispruchs in einer inoffiziellen Fahndungsliste (Fisleme) aufgeführt wird.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Situation bei Rückkehr, Fahndungslisten, PKK, Sippenhaft, Grenzkontrollen, Interne Fluchtalternative, Diyarbakir
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Gefahr der Verfolgung für Kurden aus der Türkei, der trotz Freispruchs in einer inoffiziellen Fahndungsliste (Fisleme) aufgeführt wird.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Den Klägern steht jedoch ein Anspruch auf die Feststellung zu, dass bei ihnen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Das Gericht geht nach den ihm vorliegenden Erkenntnissen wie auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass ein als Asylbewerber identifizierter Rückkehrer bei seiner Einreise in die Türkei damit rechnen muss, dass er zunächst festgehalten und einer intensiven Überprüfung unterzogen wird, wenn er insbesondere gültige Reisedokumente nicht vorweisen kann. In diesem Fall erfolgt regelmäßig eine genaue Personalienfeststellung unter Umständen mit einem Abgleich der Angaben der Personenstandsbehörden und des Fahndungsregisters hinsichtlich Grund und Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventuellen Vorstrafen in Deutschland, Asylantrag und Kontakten zu illegalen türkischen Organisationen im In- und Ausland. Zwar wird der Rückkehrer spätestens zwei oder drei Tage nach seiner Ankunft wieder freigelessen, wenn gegen ihn nichts vorliegt; indessen besteht die reale Gefahr von asylrechtsrelevanten Verfolgungsmaßnahmen bis hin zum Verschwinden von Personen, wenn diese wegen konkreter Anhaltspunkte insbesondere für die Unterstützung der PKK an die politische Abteilung der Polizei überstellt und durch diese in Haft genommen werden (so auch Hess. VGH, Urt. v. 27.03.2000 - 12 UE 583/99.A -, S. 63 - 64 des Entscheidungsumdrucks). Für den Kläger zu 1. besteht die Gefahr, bei seiner Einreise in die Türkei und den stattfindenden Kontrollen aufzufallen. Er muss mangels eines Reisepasses mit Ersatzpapieren einreisen, so dass in seinem Falle - wie oben geschildert - weiter recherchiert wird. Denn ausgehend von der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27.06.2005 existiert im Rahmen eines gegen andere türkische Staatsangehörige beim Staatssicherheitsgericht Diyarbakir anhängig gewesenen Verfahrens nach Art. 169 TStGB, in dem der Kläger zu 1. nach Auskunft des Auswärtigen Amtes von den Angeklagten belastet worden war, eine sogenannte Zusammenfassung ("Fezleke") des Polizeipräsidiums Midyat, in der der Kläger zu 1. als "flüchtiger Beschuldigter" genannt ist. Nach der sich dem Gericht darbietenden Auskunftslage ist davon auszugehen, dass auf Grund dieser Registrierung des Klägers zu 1. selbst in Anbetracht des nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27.06.2005 erfolgten Freispruchs aller in dem Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir Angeklagten diesem die in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gefahren drohen. Denn Polizei, Jandarma und Geheimdienst führen Datenblätter (Fisleme) über auffällig gewordene Personen, die z.B. auch Angaben über Verfahren, die mit Freispruch endeten, oder über Vorstrafen, die im Strafregister längst gelöscht wurden, enthalten können. Eine gesetzliche Grundlage für diese "Aufschreibungen" gibt es nicht (Auswärtiges Amt an VG Gießen vom 14.10.1997, ebenso Osman Aydin an VG Sigmaringen vom 01.06.2004). Erkenntnisse über Aufbewahrungsfristen für solche Datenblätter liegen dem Auswärtigen Amt nicht vor; Aydin (a.a.O.) geht davon aus, dass solche Daten nicht gelöscht werden, zumal die Betroffenen die einzig vorhandene Möglichkeit zur Löschung solcher Einträge - Klage vor dem Verwaltungsgericht - nicht nutzen. Nach alledem geht das Gericht in Anbetracht des von der Polizeidirektion Mardin angelegten Fazleke davon aus, dass auch bezüglich des Klägers zu 1. ein Fisleme existiert, aus dem der Vorwurf der Betätigung für die PKK hervorgeht. Im Hinblick auf solche Fälle hat aber das Auswärtige Amt (Auskunft vom 14.10.1997) ausgeführt, dass im Falle der Rückkehr von Personen, bei denen der Verdacht der Unterstützung insbesondere der PKK besteht, die Gefahr politischer Verfolgung gegeben ist (vgl. auch Oberdiek, Gutachten an VG Gießen vom 24.05.2004).

Die in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gefahren drohen nach Ansicht des Gerichts auch dem Kläger zu 2. als dessen mittlerweile erwachsenem und - wie sich aus den Vervaltungsvorgängen des Bundesamtes ergibt - zweitältestem Sohn. Es ist davon auszugehen, dass bereits bei der Einreise des Klägers zu 2.eine Verbindung zu seinem Vater offenbar wird mit der Folge, dass - aus Sicht der Grenzpolizei - konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Kläger zu 2. Kontakt zur PKK unterhält oder unterhalten hat oder gar in der PKK mitgearbeitet hat. In diesem Fall droht - wie ausgeführt - längere Polizeihaft und insbesondere die Überstellung an die Anti-Terror-Abteilung der türkischen Polizei. Kommt es zu einer derartigen Überstellung, wovon vorliegend auszugehen ist, weil die Unterhaltung von Kontakten zur PKK oder gar die Mitarbeit in der PKK unterstellt werden wird, dann besteht auch die konkrete Gefahr von Misshandlungen und Folter (Kaya an VG Gießen vom 16.03.1997; Oberdiek an VG Ansbach vom 17.03.1997). Dies gilt sowohl für den Fall, dass der Kläger zu 2. mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 43 Abs. 3 AsylVfG allein oder aber mit seinem Vater zusammen abgeschoben wird. Nach den vorliegenden Erkenntnissen kommt es im Falle eines PKK-Verdachts immer wieder auch zu Übergriffen gegenüber Kindern und Jugendlichen, sei es oftmals auch nur, um dadurch Druck auf verdächtige PKK-Aktivisten auszuüben.

Den Klägern drohen die oben geschilderten Gefahren zwar konkret nur bei der Einreise in die Türkei, weil nur bei der Einreisekontrolle die genannten Recherchen in jedem Fall vorgenommen werden, während eine Kontrolle außerhalb der grenzpolizeilichen Stellen zwar nicht auszuschließen, jedoch auch nicht zwingend zu erwarten ist, so dass prinzipiell auch für die Kläger eine inländische Fluchtalternative bestehen könnte. Wegen der Ermittlungen an der Grenze und der sich für die Kläger daraus ergebenden Folgen haben sie aber erst gar nicht die Möglichkeit, diese Fluchtalternative zu erreichen. Vielmehr droht ihnen nach der Einreise unmittelbar die Überstellung an die politische Abteilung der Sicherheitsbehörden mit der konkreten Gefahr der Folter.