VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 12.08.2005 - M 24 K 03.52211 - asyl.net: M7377
https://www.asyl.net/rsdb/M7377
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Sicherheitskräfte, Folter, Misshandlungen, PKK, Unterstützung, HADEP, Geheimdienst, JITEM, Ausreise, politische Entwicklung, Situation bei Rückkehr, Vorverfolgung, Anzeige, Glaubwürdigkeit
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG, da er seine Heimat auf Grund politischer Verfolgung verlassen musste und bei einer Rückkehr erneut von politischer Verfolgung bedroht wäre.

Der Kläger hat vor dem Bundesamt und vor Gericht glaubhaft von einer Vielzahl, teilweise massiver Übergriffe türkischer Sicherheitsbehörden berichtet, wobei er zum Zeitpunkt seiner Ausreise weiterhin mit derartigen Maßnahmen zu rechnen hatte.

Die "legale" Ausreise des Klägers aus der Türkei im Oktober 2001 mit gültigem Reisepass und ohne Beanstandung bei der Grenzkontrolle am Flughafen Ankara spricht nicht gegen die Glaubwürdigkeit des Klägers und auch nicht dagegen, dass er seine Heimat als politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG und § 60 Abs. 1 AufenthG verlassen hat. Denn "offiziell" lag gegen den Kläger zu diesem Zeitpunkt nichts mehr vor. Er war nach Verbüßung der Strafe entlassen worden, aktuell lief kein Ermittlungs- oder Strafverfahren mehr gegen ihn. Dass er gleichwohl wegen seiner durch seinen Rechtsanwalt erstatteten Anzeige gegen die Folterer unter den Sicherheitskräften, die seine Geständnisse erpresst hatten, zwar nicht von den Strafverfolgungsbehörden in amtlicher Funktion, aber von den betroffenen Mitgliedern des militärischen Geheimdienstes "JITEM" massiv bedroht wurde und mit dem Schlimmsten zu rechnen hatte, hat er glaubhaft und in Übereinstimmung mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen vorgetragen.

So wurden in der Vergangenheit und werden nach wie vor Kurden in der Türkei häufig Opfer von Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Intensität, die trotz der umfassenden Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter weiterhin dem türkischen Staat zurechenbar sind, weshalb auch gegenwärtig verfolgt ausgereiste Kurden vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. 4.2005, Az: 8 A 273/04.A - Juris Nr.: MWRE205012480 - m.N.). Diese Einschätzung wird durch die Ausführungen im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 3. Mai 2005 nicht in Frage gestellt. Zwar heißt es dort auf S. 28 f., aufgrund der Reformen könne davon ausgegangen werden, dass zurückkehrende Asylbewerber in der Türkei nicht gefoltert werden, und zwar auch dann nicht, wenn sie zuvor bereits gefoltert oder misshandelt worden seien. Da das Auswärtige Amt aber andererseits auch angibt, dass Folter in der Türkei nach wie vor ein Problem darstellt, liegt dieser Prognose ersichtlich nicht der Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit zu Grunde (OVG Nordrhein-Westfalen a.a.O.). Dass Personen die gefoltert wurden und Anzeige gegen die Verantwortlichen erhoben haben, deswegen ebenso wie ihre Anwälte weiteren Repressionen ausgesetzt sein können, ergibt sich etwa aus der "Urgent Action"-Meldung von amnesty international Deutschland vom 4. August 2004, die von der Klagepartei neben weiteren Unterlagen mit der Klagebegründung vorgelegt worden ist, der "Länderkurzinfo" der Koordinationsgruppe Türkei der deutschen Sektion von amnesty international vom Juli 2005 und dem Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe "Türkei - Zur aktuellen Situation - Mai 2005", die von der Klagepartei in der mündlichen Verhandlung übergeben und zum Gegenstand der Verhandlung gemacht wurden. Das Gericht sieht keinen Anlass, an dem Wahrheitsgehalt der dortigen Schilderungen zu zweifeln, zumal die Darstellung der gegenwärtigen Situation im o.g. Lagebericht des Auswärtigen Amts zwar wesentlich zurückhaltender ist, aber letztlich in die gleiche Richtung geht. Die von amnesty international angeführten Übergriffe und Maßnahmen kommen auch nicht nur vereinzelt vor, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger, der vorverfolgt ausgereist ist, im Falle der Rückkehr in seine Heimat erneut entsprechenden Repressalien von asylerheblichem Gewicht ausgesetzt sein wird, nicht unbedeutend ist.