VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 17.06.2005 - B 6 K 04.30001 - asyl.net: M7419
https://www.asyl.net/rsdb/M7419
Leitsatz:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Christen im Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Christen, mittelbare Verfolgung, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Übergriffe, Nachbarn, Schutzfähigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Christen im Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) vom 18.12. 2003 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit die Anerkennung der Asylberechtigung und die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach §§ 51 Abs. 1 , 53 Abs. 1 - 4 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 - 5 AufenthG) begehrt wird. Hinsichtlich des begehrten Abschiebungsschutzes nach § 53 Abs. 6 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 7 AufenthG) haben die Klagen Erfolg

2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (im Wesentlichen übereinstimmend mit § 51 Abs. 1 AuslG a. F.).

Auch unter dem Gesichtspunkt einer mittelbaren Gruppenverfolgung, d.h. einer dem Staat wegen mangelnder Schutzgewährung zurechenbaren mittelbaren staatlichen Verfolgung wegen der christlichen Religionszugehörigkeit der Kläger ergibt sich kein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

Seit dem Sturz des Saddam-Regimes hat sich die Situation der Christen im Irak stark verschlechtert (vgl. Deutsches Orientinstitut vom 31.01.2005 an VG Ansbach und UNHCR - Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak - vom April 2005). Seit dem offiziellen Ende des Krieges im Mai 2003 wurden bis Oktober 2004 bereits mehr als 80 Christen von islamistischen Terroristen getötet, allein 20 im September 2004. Die Ursachen für diese Entwicklung werden von den Auskunftsstellen zum einen in einem erstarken des politischen Islam gesehen, zum anderen darin, dass die Christen mit den "westlichen Invasoren" in Verbindung gebracht und als "Handlanger" der amerikanischen Streitkräfte gesehen werden. Hinzu kommen rein kriminell motivierte Entführungen von Christen, von denen man sich höhere Erpressungsgelder verspricht, als auch Überfälle auf Alkoholgeschäfte, die meist von Christen geführt werden. Zu beachten ist jedoch auch, dass die allgemeine Sicherheitslage im Irak äußerst problematisch ist. Anschläge werden nicht nur auf Christen verübt, sondern vornehmlich auf Angehörige der Koalitionsstreitkräfte und sämtliche am Wiederaufbau des Landes beteiligten Berufsgruppen, sehr häufig auf Polizisten oder potentielle Polizeianwärter, auf Journalisten und medizinisches Personal. Auch im Zusammenhang mit der Durchführung und Vorbereitung der Nationalratswahlen sind sehr viele Anschläge verübt und zahlreiche Menschen getötet worden. Ziel dieser in ihrer Intensität zunehmenden Anschläge ist es, Furcht und Schrecken zu verbreiten, Gewalttätigkeiten verschiedene irakischer Bevölkerungsgruppen gegeneinander zu provozieren und das Land insgesamt zu destabilisieren.

Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen sind die Übergriffe gegenüber Christen aber nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen begründen könnten (vgl. OVG Rheinland-Pfalz vom 24.01.2005, Az: 10 A 10001/05.OVG; BayVGH vom 03.03.2005, Az: 23 B 04.30734). In Betracht käme ohnehin nur eine von privater Seite ausgehende, dem Staat wegen mangelnder Schutzgewährung zurechenbare mittelbare staatliche Verfolgung.

Diese Anforderungen sind nach Ansicht des Gerichts im Falle der Christen im Irak nicht gegeben. Das OVG Rheinland-Pfalz geht in seiner Entscheidung vom 24.01.2005 von 700.000 bis 800.000 im Irak lebenden Christen aus. Die Zahl der bei den Anschlägen getöteten Christen betrug ca. 80 bis 110 Personen. Laut Auskunft des Deutschen Orientinstituts vom 31.01.2005 ist die Zahl der Christen bereits auf 400.000 bis 600.000 gesunken. Die Zahl der bis Oktober 2004 getöteten Christen wird mit 80 Personen angegeben. Auch wenn man von einer erheblich größeren hinzukommenden Zahl von Bedrohungen, Erpressungen, Plünderungen und sonstigen diskriminierenden Handlungen gegenüber Christen ausgeht, ist angesichts der noch erheblichen Zahl von mindestens 400.000 Christen im Irak nicht davon auszugehen, dass für jeden im Irak lebenden bzw. in den Irak zurückkehrenden Christen die Furcht begründet ist, in eigener Person Opfer derartiger Übergriffe zu werden.

4. Hinsichtlich der begehrten Feststellung des Bestehens von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG (früher: § 53 Abs. 6 AuslG) sind die Klagen dagegen begründet.

Die von den Klägern geschilderten Bedrohungen durch moslemische Nachbarn passen in das Bild, das sich aus der Auskunftslage (vgl. Deutsches Orient-Institut, a.a.O.; UNHCR a.a.O.) ergibt. Nachdem die Kläger die Fluchtgründe in der mündlichen Verhandlung widerspruchsfrei geschildert haben, sieht das Gericht nach dem, Grundsatz der wohlwollenden Beweiswürdigung keinen Ansatzpunkt, um die Aussagen der Kläger als unglaubhaft anzusehen. Die Situation der Kläger vor ihrer Ausreise stellte sich damit so dar, dass sie sich gegen das Eindringen der Nachbarn in ihre Wohnung, das Zerstören oder Wegnehmen von Haushaltsgegenständen, sowie gegen die unkalkulierbaren Drohungen mit dem Niederbrennen des Hauses, bzw. mit Tötung nicht wirksam zur Wehr setzen konnten. Die Sicherheitskräfte der Übergangsregierung sind zu einer effektiven Schutzgewährung gegenwärtig nicht in der Lage. Den Klägern stand auch keine zumutbare "inländische Fluchtalternative" zur Verfügung. Da sich die Kläger schon in einem überwiegend von Christen bewohnten Stadtviertel befanden, kann ihnen ein Umzug in einen anderen, womöglich überwiegend von Moslems bewohnten Stadtteil nicht zugemutet werden. Als älteres Ehepaar, dessen Söhne alle im Ausland leben, haben sie keinen familiären Rückhalt im Sinne einer Wehrhaftigkeit eines Familienclans. Schließlich hätte auch ein Umzug nach Mosul, wo noch ein Verwandter der Kläger wohnt, keine hinreichende Sicherheit vor weiteren Gefahren für Leib und Leben versprochen, da die Lage in Mosul für Christen keinesfalls besser ist als in Bagdad.