VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 09.09.2005 - 2 E 2207/02.A (V) - asyl.net: M7425
https://www.asyl.net/rsdb/M7425
Leitsatz:

Extreme Gefährdungslage i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung hinsichtlich Äthiopien für allein stehende Personen; hier zusätzliche Gefährdung für Spitzensportlerin, die sich bei Auslandsaufenthalt abgesetzt hatte.

 

Schlagwörter: Äthiopien, Abschiebungshindernis, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Situation bei Rückkehr, Sportler, Abschiebungsandrohung, Zielstaatsbestimmung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 59
Auszüge:

Extreme Gefährdungslage i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung hinsichtlich Äthiopien für allein stehende Personen; hier zusätzliche Gefährdung für Spitzensportlerin, die sich bei Auslandsaufenthalt abgesetzt hatte.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) maßgebenden Sach- und Rechtslage hat die Klägerin nach Auffassung des Gerichts einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG (früher § 53 Abs. 6 AuslG) hinsichtlich des Staates Äthiopien.

Das Gericht ist unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisse und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des HessVGH (Urteil vom 11.12.2000, Az.: 9 UE 1702/98.A; vom 28.01.2002, Az.: 9 UE 707/01.A und vom 06.02.2003, Az.: 9 UE 1739/98.A) davon überzeugt, dass die derzeitige katastrophale Lage in Äthiopien für einen Alleinstehenden, in seiner Heimat über keinen familiären Rückhalt verfügenden Asylbewerber im Falle seiner Rückkehr eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben begründet, die die Schwelle der konkreten Existenzgefährdung erreicht.

Nach Auffassung des Gerichts liegt eine vergleichbare Situation bei der Klägerin vor. Sie würde im Heimatland auf nicht ohne weiteres familiäre Bindungen treffen, die zur Unterstützung in der Lage wären und zumindest vorübergehend Hilfe leisten und die Klägerin aufnehmen könnten. Kontakt zu Mutter und Geschwistern besteht nicht. Eine berufliche Qualifikation hat die Klägerin nicht vorzuweisen. Ersparnisse vermochte sie hier in Deutschland nicht zu bilden. Insbesondere Aufgrund der Situation der Klägerin, die sich als vom Staat unterstützte Spitzensportlerin auf dem Weg zu einer Teilnahme an afrikanischen Wettkämpfen mit anderen in der Bundesrepublik Deutschland abgesetzt hat, führt eine Rückkehr in ihr Heimatland bei einer Gesamtbetrachtung ihrer persönlichen Umstände unter Würdigung der allgemeinen Versorgungslage in Äthiopien zu einer gesteigerten Gefahr für Leib und Leben im oben genannten Sinne (vgl. auch HessVGH, Urteil.vom 23.04.2003, Az.: 9 UE 1906/02.A, Urteil vom 19.02.2003, Az.: 9 UE 1731/98.A, zu § 53 Abs. 6 AuslG). Der Umstand, dass über dieses Ereignis in den äthiopischen Medien (in der Zeitung Seife Nebelbal und der Zeitung Marathon) kritisch berichtet wurde und die Namen der in Deutschland Schutzsuchenden veröffentlicht wurden, führt nach Auffassung des Gerichts dazu, dass die Klägerin unabhängig davon, ob ihr Abschiebeschutz aufgrund sonstiger gesetzlicher Vorschriften zusteht, nicht in der Lage sein wird, ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Die Klägerin hat auch einen Anspruch auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung (Ziffer 4. des Bundesamtsbescheides). Sie gilt gemäß § 102 Abs. 1 des seit 01. Januar 2005 geltenden AufenthG fort.

Die Verfügung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

Gemäß § 59 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG soll die Abschiebungsandrohung unter Fristbestimmung angedroht und der Abschiebezielstaat bezeichnet werden. Gemäß Abs. 3 der genannten Vorschrift steht ein Abschiebeverbot dem Erlass der Vollstreckungsandrohung nicht entgegen, sondern es ist der Staat zu bezeichnen, in den nicht abgeschoben werden soll (negative Zielstaatenangabe).

Diese Negativbestimmung fehlt der vorliegenden Abschiebungsandrohung, in der Äthiopien als (positiver) Abschiebezielstaat benannt ist, bzgl. dem aber ein Abschiebungsverbot besteht.

Zwar regelt § 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG vergleichbar dem alten § 50 Abs. 3 Satz 3 AuslG, dass bei gerichtlicher Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes (alte Fassung: Abschiebungshindernisses) die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung "im Übrigen" unberührt bleibt.

Das Gericht geht aber davon aus, dass die Abschiebungsandrohung bei fehlender negativer Zielstaatsangabe insgesamt aufzuheben ist (vgl. OVG Thüringen, Urteil vom 06.03.2002, Az.: 3 KO 428/99; HessVGH, Urteil vom 31.05.2002, Az.: 9 UE 1730/98.A; HessVGH, Urteil vom 28.02.2003, Az.: 9 UE 1694/98.A), da nur noch ein Fragment der Abschiebungsandrohung bei Wegfall der Zielstaatsangabe übrigbleibt. Zum einen fehlt es im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) an einer Zielstaatenangabe überhaupt. Damit leidet die verbleibende Vollstreckungsverfügung (Androhung der Abschiebung mit Fristsetzung) an einem wesentlichen Mangel und verliert ihre Bedeutung, weil eine erneute Androhung unter negativer Zielstaatenbestimmung gemäß § 59. Abs. 3 Satz 2 AufenthG ergehen muss. Die Existenz zweier Vollstreckungsverfügungen sollte aber bereits aus Praktikabilitätsgesichtspunkten und Klarheitsgründen vermieden werden. Zum anderen führt die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zu einer "Regelaufenthaltserlaubnis" und damit zum Wegfall der Ausreisepflicht gemäß § 50 AufenthG (anders nach altem Recht bei § 53 Abs. 6 AuslG, der gemäß dem heute entfallenen § 41 Abs. 1 AsylVfG lediglich die Erteilung einer Duldung vorsah). Auch der Gesetzesbegründung zu § 60 AufenthG ist zu entnehmen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG gemäß § 25 AufenthG zu einem Aufenthalt aus humanitären Gründen und damit normalerweise zu einer befristeten Aufenthaltserlaubnis führen. Dieser Intention des Gesetzgebers stünde nach Auffassung der Einzelrichterin eine nur partielle Aufhebung der Abschiebungsandrohung bzgl. der Zielstaatsangabe entgegen. Letztlich gebietet auch der im Verwaltungsvollstreckungsrecht herrschende Grundsatz der Bestimmtheit die Gesamtaufhebung zur Vermeidung von Unklarheiten.