VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 06.12.2005 - 2 A 7014/03 - asyl.net: M7682
https://www.asyl.net/rsdb/M7682
Leitsatz:
Schlagwörter: Syrien, Kurden, Folgeantrag, Internet, Journalisten, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Situation bei Rückkehr, qamislo.com, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Glaubwürdigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

Der Kläger kann die Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 01.12.2003 verlangen, weil die Beklagte antragsgemäß zu verpflichten ist, in seiner Person das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen.

Dem Verfahren liegt ein Asylfolgeantrag zugrunde.

Anders liegt es hingegen bei den vielfachen, vom Kläger auf kurdischen Internet-Seiten publizierten journalistischen Artikeln in arabischer Sprache, die er auch namentlich gekennzeichnet hat. Diese Aktivitäten sind innerhalb der Drei-Monats-Frist und damit rechtzeitig geltend gemacht worden und im konkreten Einzelfall des Klägers auch geeignet, eine nachträgliche Veränderung der Sachlage herbeizuführen, die zur Gewährung von Abschiebungsschutz führen muss. Zwar liegt nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 14.07.2005 für Deutschland nach den bisherigen Erkenntnissen keine flächendeckende Überwachung exilpolitischer Aktivitäten vor. Bei Rückkehrern werde durch die Geheimdienste zwischen Führungspersönlichkeiten, Aktivisten, einfachen Sympathisanten und Mitläufern unterschieden. Von der Einleitung konkreter Verfolgungsschritte bei Rückkehr ins Land könne in Bezug auf Personen, die erst im Ausland die oppositionelle Tätigkeit aufgenommen haben, dann ausgegangen werden, wenn die Aktivitäten der konkreten Personen öffentlichkeitswirksam bekannt geworden seien. Sei ein Rückkehrer den syrischen Behörden "wegen aktiver, an herausragender Stelle gegen Syrien gerichteter Tätigkeit bekannt", müsse er mit Inhaftierung durch die Geheimdienste und anschließend eventuell Misshandlungen rechnen. Die syrischen Geheimdienste versuchen ihre begrenzten Ressourcen auf die als gefährlich erachteten Regimegegner zu konzentrieren. Bei Auslandsaktivitäten ist zu berücksichtigen, dass das Interesse der syrischen Dienste mit zunehmender Entfernung vom Lande abnimmt, d.h. die intensivste Beobachtung und Überwachung findet in Syrien selbst statt. Daneben gelte das besondere Augenmerk den Nachbarstaaten und den Staaten im arabischen Raum, während Europa und die Vereinigten Staaten bereits an Bedeutung verlieren. Neben einer als "antisyrisch" eingeschätzten Tätigkeit muss hinzukommen, dass aufgrund hoher Publizität oder anderer Öffentlichkeitswirksamkeit eine besondere Aufmerksamkeit im Ausland gegen den syrischen Staat erzeugt wird. Bei Aktivitäten im westlichen Ausland setzt eine Verfolgungsgefahr voraus, dass eine wirklich leitende und/oder mit einer gewissen Dauerhaftigkeit nach außen hervortretende öffentliche Beteiligung in der kurdischen Exilszene stattfindet, oder dass die Aktivitäten nach Syrien hineinwirken, also Verbindungen nach Syrien gepflegt werden, die dort aus Sicht der syrischen Staatsorgane problematisch werden könnten (vgl. OVG Bremen, U. v. 13.04.2000 - 2 A 466199.A -).

Nach diesen Grundsätzen können im Einzelfall Veröffentlichungen im Internet geeignet sein, die Gefahr einer politischen Verfolgung bei Rückkehr nach Syrien zu begründen. Dies ergibt sich u.a. daraus, dass Internet-Veröffentlichungen nach Syrien hineinwirken können und dass eine staatliche Überwachung des Internets existiert (vgl. dazu Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 14.07.2005, S. 10, 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien, Update Mai 2004, S. 7). Die staatliche Telekommunikationsgesellschaft filtert danach auch aus dem Ausland betriebene Web-Seiten u.a. auf regimekritische Inhalte und blockiert diese ggf. für syrische Internet-Nutzer. So war auch die Internet-Seite gamislo.com, auf der der Kläger seine Artikel im Wesentlichen veröffentlicht hat, zwischenzeitlich gesperrt (Hajo und Savelsberg, Gutachten v. 06.09.2005 an das VG Magdeburg). Dieselben Gutachter bezeichnen auch in ihrem Gutachten vom 16.01.2005 an das VG Magdeburg diese Seite nach den Unruhen im Norden Syriens im März 2004 als zeitweise gesperrt. Die syrische Regierung empfindet diese Web-Site als Gefährdung auch und vor allem, weil Kurden in Syrien eine von offiziellen syrischen Stellen unabhängige Sichtweise auf bestimmte Ereignisse erhalten. Wirken danach die Aktivitäten des Klägers nach Syrien hinein und ist er als Verfasser der Artikel wegen der Zeichnung mit seinem Namen auch individuell identifizierbar, so beurteilt sich die Frage, ob eine Veröffentlichung im Internet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung begründet, nach dem Maßstab, der auch ansonsten für die Abgrenzung asylrechtlich relevanter von nicht relevanter exilpolitischer Aktivität bedeutsam ist (OVG Lüneburg, B. v. 02.07.2003 - 2 LA 172/02 -). Die Antwort hängt im Einzelfall vom Inhalt des veröffentlichten Textes ab, von der Häufigkeit der Veröffentlichungen regimekritischen Inhalts, vom Bekanntheitsgrad des Autors als Regimegegner und Verfasser regimekritischer Veröffentlichungen sowie von der Frage, ob die Veröffentlichung im Internet über sogenannte Links auf der Homepage von Organisationen besucht werden kann, die als regimefeindlich angesehen werden mit der Folge, dass für den Verfasser aus Sicht der syrischen Stellen eine für ihn gefährliche Nähe zu diesen Organisationen entsteht.

In Anwendung dieser Grundsätze hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass die journalistische Arbeit des Klägers eine asylrechtlich relevante exilpolitische Aktivität darstellt. Dieses Ergebnis folgt aus den vielfältigen Veröffentlichungen, die von Inhalt und Diktion erwarten lassen, dass der syrische Geheimdienst vom Engagement des Klägers Kenntnis nimmt. Das syrische System wird als Diktatur bezeichnet, die Regierung der Tötung bzw. Folterung zahlreicher kurdischer Gefangener beschuldigt. Ihre Kurdenpolitik wird mit dem Begriff der "ethnischen Säuberung" belegt und der Präsident persönlich als "Kriegsverbrecher" bezeichnet. Der Kläger gibt sich also nicht nur als Mitglied bzw. Sympathisant der exilpolitischen Szene in Deutschland zu erkennen, sondern richtet die Kritik seiner Beiträge gegen die syrische Regierung und den Geheimdienst im allgemeinen sowie mehrfach gegen Präsident Al Assad persönlich.

Die Regelung des § 28 Abs. 2 AsylVfG, wonach ein Ausländer nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages im Asylfolgeverfahren in der Regel Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr erhält, kommt vorliegend nicht zur Anwendung. Die Neufassung des Gesetzes verfolgt den Zweck, Ausländern den Anreiz zu nehmen, nach unverfolgter Ausreise und abgeschlossenem Asylverfahren aufgrund neu geschaffener Nachfluchtgründe ein Asylverfahren zu betreiben, um damit zu einem dauernden Aufenthalt zu gelangen (Bundestags-Drucks. 15/420, S. 109 f.). Das Leitbild des für das Asylgrundrecht prägenden Kausalzusammenhangs Verfolgung - Flucht - Asyl soll auch auf die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus erstreckt werden. Im Falle konkreter Gefahren könne der erforderliche Schutz im Rahmen der Prüfung von Abschiebungshindernissen gewährleistet werden, ohne den aufenthaltsrechtlichen Status zu verfestigen. Auch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Gesetzesänderung, die auch auf die hier vor dem 01.01.2005 erfolgte Folgeantragstellung des Klägers anzuwenden ist, weil eine Übergangsregelung des Gesetzgebers fehlt und auch ansonsten eine Ausnahme von § 77 Abs. 1 AsylVfG nicht ersichtlich ist, steht dieser neue Ausschlussgrund dem Klagebegehren nicht entgegen. Bei der exilpolitischen Betätigung des Klägers in Deutschland handelt es sich zur Überzeugung der Kammer nämlich um eine solche, die einer schon in Syrien gewachsenen, tiefen Überzeugung entspricht und nicht um einen erst "nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss" neu geschaffenen Nachfluchttatbestandes i.S.v. § 28 Abs. 1 AsylVfG.