VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 21.12.2005 - VG 11 A 944.05 - asyl.net: M7683
https://www.asyl.net/rsdb/M7683
Leitsatz:

§ 25 Abs. 5 AufenthG bei posttraumatischer Belastungsstörung wegen Gefahr der Retraumatisierung; Rückkehr einer Angehörigen der Gorani aus Kosovo, die von serbischen Sicherheitskräften vergewaltigt wurde, nach Belgrad unzumutbar; Stellungnahme des BAMF nach § 72 Abs. 2 AufenthG lässt erhebliche Defizite hinsichtlich der Kenntnisse zur posttraumatischen Belastungsstörung erkennen.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Gorani, Ausreisehindernis, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Situation bei Rückkehr, Bundesamt, Stellungnahme, interne Fluchtalternative, Genfer Flüchtlingskonvention, Vergewaltigung, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit, Schutz von Ehe und Familie
Normen: AufenthG § 25 Abs. 4 S. 1; AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 72 Abs. 2; GFK Art. 1 C Nr. 5 AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3; VwGO § 123
Auszüge:

§ 25 Abs. 5 AufenthG bei posttraumatischer Belastungsstörung wegen Gefahr der Retraumatisierung; Rückkehr einer Angehörigen der Gorani aus Kosovo, die von serbischen Sicherheitskräften vergewaltigt wurde, nach Belgrad unzumutbar; Stellungnahme des BAMF nach § 72 Abs. 2 AufenthG lässt erhebliche Defizite hinsichtlich der Kenntnisse zur posttraumatischen Belastungsstörung erkennen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Antrag der Antragsteller, einem Ehepaar im Alter von 40 bzw. 33 Jahren und ihrer drei Kinder im Alter von 6 bis 11 Jahren, bei den es sich um moslemische Gorani aus dem Kosovo handelt,

1. den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen Aufenthaltserlaubnisse für die Dauer eines Jahres zu erteilen,

2. ihnen Prozesskostenhilfe für das vorläufige Rechtsschutzverfahren unter Beiordnung ihrer Verfahrensbevollmächtigten zu bewilligen,

hat hinsichtlich beider Anträge Erfolg.

Der auf § 123 Abs. 1, Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO gestützte Antrag zu 1. (Sachantrag) ist zulässig und begründet, denn die Antragsteller haben einen im Wege vorläufigen Rechtsschutzes sicherungsfähigen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit der die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden Wahrscheinlichkeit sowie einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Ein Anspruch der Antragstellerin zu 2. auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ergibt sich sowohl aus § 25 Abs. 4 Satz 1 wie auch aus § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG im Hinblick darauf, dass die Antragstellerin zu 2. seit langem an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSB) erkrankt ist und ihr nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand deshalb eine Rückkehr in ihr Herkunftsland Serbien-Montenegro nicht zugemutet werden kann.

Nach dem von der Kammer in dem Verfahren VG 11 F 32.02 eingeholten Gutachten der gerichtlich bestellten Sachverständigen Frau Dr. ... vom 12. Februar 2003 leidet die Antragstellerin zu 2. unter dem Vollbild der PTSB in der Weise, dass eine Chronifizierung vorliegt und eine Rückführung in die Heimat einer Retraumatisierung gleich kommt, wobei damit gerechnet werden muss, dass diese Antragstellerin dann auch suizidal werden kann.

Soweit der Antragsgegner in seiner Klageerwiderung vom 6. Dezember 2005 im Klageverfahren (VG 11 A 893.05) unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des BAMF vom 5. Oktober 2005 die Antragstellerin zu 2. im Hinblick darauf, dass sie sich vor ihrer Ausreise in Belgrad aufgehalten hat, auf eine Rückkehr und weitere Behandlung in Belgrad verweist, vermag das Gericht dieser Auffassung aus mehreren Gründen nicht zu folgen.

Die vom Antragsgegner eingeholte Stellungnahme des BAMF vom 5. Oktober 2005 betreffend die Antragstellerin zu 2. lässt erkennen, dass bei dem Bearbeiter/der Bearbeiterin des BAMF (Frau oder Herr Remke) erhebliche Defizite hinsichtlich der Kenntnis der Struktur einer posttraumatischen Belastungsstörung und deren rechtlicher Bewertung existieren. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung durch Kriegsereignisse handelt es sich um eine schwere psychische Erkrankung (vgl. zu dieser Bewertung: OVG Saarlouis, Beschluss vom 20. September 1999 - 9 Q 286.98 - Leitsatz 6; eine Erkenntnis, die in der gegenwärtigen öffentlichen und politischen Diskussion über den Aufenthalt traumatisierter Flüchtlinge nicht angemessen zur Kenntnis genommen bzw. berücksichtigt wird (vgl. Beschluss der 35. Kammer vom 3. Mai 2000 - VG 35 A 3654.97 -). Bei einer Kriegstraumatisierung besteht nach der Rechtsprechung ein Anspruch auf Aufenthalt nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GK -) vom 28. Juli 1951. Wie das Verwaltungsgericht Karlsruhe in seinem Urteil vom 18. Mai 1998 - A 12 K 10192.98 - dargelegt hat, genießt ein kriegstraumatisierter Flüchtling den Schutz nach Art. 1 C Nr. 5 Abs. 2 GK (ebenso Bayerisches Verwaltungsgericht München, Urteil vom 5. Mai 1998 - M 21 K 96.53206 - S. 20 f des amtlichen Abdrucks). Mit der Regelung in Art. 1 C Nr. 5 Abs. 2 GK sollte der besonderen Lage der Personen Rechnung getragen werden, die in der Vergangenheit unter schweren Verfolgungen zu leiden hatten. Angesichts der unmenschlichen Verfolgungen, denen gerade die Juden in Europa durch die nationalsozialistischen Machthaber ausgesetzt waren, ging man davon aus, dass von einem Flüchtling, der selbst - oder dessen Familie - besonders schwere Verfolgungen zu erdulden hatte, nicht erwarten werden könne, dass er in das bisherige Verfolgerland zurückkehrt, auch wenn in diesem Land nunmehr das Unrechtregime beseitigt ist und freiheitlicheVerhältnisse herrschen. Denn auch eine Wiederherstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse bedeutet im Einzelfall nicht, dass sich der psychische Zustand des Flüchtlings in Anbetracht seiner Erlebnisse in der Vergangenheit völlig geändert hat, ganz abgesehen davon, dass eine Änderung des Regimes nicht immer auch eine völlige Änderung in der Haltung der Bevölkerung bedeuten muss (vgl. Amt des hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge - UNHCR - Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Genf 1979, Seite 37; vgl. Verwaltungsgericht Ansbach, Urteil vom 24. Mai 1984 - AN K 81 C 638 -, Seite 12 des amtlichen Abdrucks).

Auch in Deutschland genießen Flüchtlinge im Asylverfahren, die wegen vorangegangener politischer Verfolgung traumatisiert sind, einen besonderen Schutz. Nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist in solchen Fällen von einem Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter abzusehen (vgl. dazu Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 16. Januar 1998 - A 12 K 11755.97 - Seite 6 f des amtlichen Abdrucks). Diese Vorschrift, die inhaltsgleiche Regelung aus § 16 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG 1992 übernommen hat, stellt nach der Rechtsprechung des BVerwG (Urteil vom 31. Januar 1989 - BVerwG 9 C 43.88 -, Informationsbrief Ausländerrecht 1993, 110; EZAR 200 Nr. 24) einen humanitären Rechtsgedanken dar. Damit soll der psychischen Sondersituation Rechnung getragen werden, in der sich ein Asylberechtigter befindet, der ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und dem deshalb selbst lange Jahre danach ungeachtet der veränderten Verhältnisse nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Februar 1996 - A 13 S 77.85 -, Informationsbrief Ausländerrecht 1987, 91, 93; EZAR 214 Nr. 1; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 73 AsylVfG, Rdnr. 13; Marx AsylVfG, 4. Aufl., § 73, Rdnr. 26).

Soweit das BAMF in seiner Stellungnahme vom 5. Oktober 2005 die Antragstellerin zu 2. auf einen Aufenthalt in Belgrad verweist, erscheint dies vor dem Hintergrund der vorstehend dargestellten Rechtslage auch nicht ansatzweise nachvollziehbar. Das BAMF geht in seiner Äußerung vom 5. Oktober 2005 selbst davon aus, dass die von ihm nicht in Frage gestellte PTSB der Antragstellerin zu 2. Ursache eines sexuellen Übergriffs durch serbische Polizei während des Krieges gewesen sei. In dieser Situation stellt sich sehr wohl die Frage, ob und in welcher Weise die Antragstellerin zu 2. bei einer auch im Jahr 2005 fortdauernden schweren psychischen Erkrankung von dieser Art auf eine ärztliche Behandlung in Belgrad damit in Serbien selbst verwiesen werden kann. Nach Auffassung des Gerichts müsste es auch dem BAMF im vorliegenden Fall erkennbar werden können, dass gerade das von der Antragstellerin zu 2. erlittene Schicksal nach den vorliegenden Erkenntnissen seine Ursache im Wesentlichen in den ethnischen Konflikten zwischen den einzelnen Volksgruppen im früheren Jugoslawien gehabt haben dürfte und deshalb bei einer Verweisung der Antragstellerin zu 2. auf eine weitere Behandlung in Belgrad zunächst geklärt werden müsste, ob dort ein Arzt bzw. Therapeut existiert, der - unabhängig von den anderen Aspekten - auch die insoweit erforderliche Behandlung zu leisten im Stande ist. Zu diesem Punkt schweigt sich die Stellungnahme vom 5. Oktober 2005 völlig aus; ob dies aufgrund von Unwissen oder Unkenntnis geschehen ist, ist für die Bewertung unerheblich.

Die Stellungnahme vom 5. Oktober 2005 begegnet auch deshalb erheblichen inhaltlichen Richtigkeitszweifeln, als das BAMF unter dem 14. Oktober 2005 - also nur 9 Tage später - durch den selben Bearbeiter bzw. dieselbe Bearbeiterin in einem anderen bei der Kammer anhängigen Verfahren (VG 11 A 498.03) eine inhaltlich völlig entgegengesetzte und für die dortige Klägerin positive Stellungnahme abgegeben hat. Auch in diesem Verfahren lag ein gerichtliches Sachverständigengutachten von Frau Dr. ... vom 7. Februar 2004 vor, in dem eine Diagnose und die Gefahren für den Fall einer Rückkehr fast wortgleich (!) beschrieben worden sind. Gleichwohl kam das BAMF - wie bereits ausgeführt - zu einer völlig entgegengesetzten Bewertung.

Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass die Familie auch nach Auffassung des Gerichts dringend eines gesicherten Aufenthalts bedarf. Es entspricht der Auffassung mehrerer Sachverständiger und Gutachter, dass ein traumatisierter Flüchtling ein geschütztes und sicheres gesellschaftliches Umfeld und einen gesicherten Aufenthalt benötigt und beides nur gemeinsam eine Grundlage für die erstrebte Heilung sein kann (vgl. dazu Urteil vom 4. Oktober 1999 in dem Verfahren VG 35 A 948.96, Seite 17, Urteil vom 7. Oktober 1999 - VG 35 A 2315.97 -, Seite 10, Urteil vom 8. November 1999 - VG 35 A 2994.96, Seite 16).