VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 07.12.2005 - A 3 K 11539/04 - asyl.net: M7727
https://www.asyl.net/rsdb/M7727
Leitsatz:

Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung setzt hinreichende Sicherheit vor Verfolgung voraus; kein Widerruf, wenn kein staatlicher Schutz vor neuer, insbesondere nichtstaatlicher Verfolgung besteht; Qualifikationsrichtlinie ist bereits anwendbar; kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von Gegnern des Baath-Regimes, da kein hinreichender Schutz vor Aktionen durch nichtstaatliche Akteure und frühere Baathisten in den Sicherheitskräften besteht.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Zuwanderungsgesetz, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Anerkennungsrichtlinie, Zumutbarkeit, allgemeine Gefahr, Sicherheitslage, Situation bei Rückkehr, Schutzfähigkeit, Sippenhaft, Baath
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1 Bst. e
Auszüge:

Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung setzt hinreichende Sicherheit vor Verfolgung voraus; kein Widerruf, wenn kein staatlicher Schutz vor neuer, insbesondere nichtstaatlicher Verfolgung besteht; Qualifikationsrichtlinie ist bereits anwendbar; kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von Gegnern des Baath-Regimes, da kein hinreichender Schutz vor Aktionen durch nichtstaatliche Akteure und frühere Baathisten in den Sicherheitskräften besteht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 1 Asylverfahrensgesetz in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30.07.2004 (Zuwanderungsgesetz) zum 01.01.2005 geltenden Fassung - AsylVfG 2005 - liegen nicht vor.

Voraussetzung für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 ist, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung nicht mehr vorliegen. Dies ist nur dann der Fall, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass die Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht und der Betroffene ohne Verfolgungsfurcht heimkehren kann (BVerwGE 88, 367 und VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -, NVwZ-RR 2004, 790). Bei der Beurteilung der Frage, ob die Gefahr von asylrelevanter Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht, ist ein strenger Prognosemaßstab anzulegen. Grundsätzlich ist daher der Widerrufstatbestand nur erfüllt, wenn eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen wegen zwischenzeitlicher Veränderungen im Verfolgerstaat mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (BVerwG, Urteil vom 24.11.1992 - 9 C 3.92 -, Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG 1992 Nr.,1). Dieser Prognosemaßstab ist nicht nur auf Personen anzuwenden, die bereits vor der Ausreise politische Verfolgung erlitten haben oder die unter dem Druck einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgung ausgereist sind, sondern auch auf Personen, die "nur" aufgrund einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehender Verfolgungsgefahr anerkannt worden sind. Dies mach deutlich, dass Anerkennung und Widerruf keine spiegelbildlichen Akte sein müssen (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.3.2004 - A 6 S 219/04 -, NVwZ 2004, 790/791).

Darüber hinaus ist bei der Bewertung der entscheidungserheblichen Veränderung der maßgebliche Verhältnisse im Sinne des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -) zu beachten, das durch das Gesetz vom 01.09.1953 (BGBl. II 1953 S. 559 ff.) als nationales Recht übernommen worden ist. Rechtlich unerheblich ist es, dass die Genfer Flüchtlingskonvention eine Regelung über den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft und das dabei zu beachtende Verfahren nicht enthält (vgl. auch VG Köln, Urteil vom 01.07.2005 - 18 K 7716/04A -). Gemäß Art. 1 C Nr. 5 GFK fällt eine Person, auf die die Bestimmungen des Abschnitts A zutreffen, nicht mehr unter dieses Abkommen, wenn sie es nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Diese sog. "Wegfall der Umstände"-Klausel ist inzwischen wörtlich von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitigen internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) übernommen worden, die am 30.09.2004 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und nach ihrem Art. 39 am zwanzigsten Tag nach der Veröffentlichung in Kraft getreten ist. Bisher ist die Richtlinie noch nicht in nationales Recht umgesetzt worden, die Umsetzungsfrist hierfür läuft erst am 10.10.2006 ab. Gleichwohl ist es sachgerecht, die Qualifikationsrichtlinie im Wege einer gemeinschaftskonformen Auslegung schon jetzt bei der Feststellung der Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften folgt aus Art. 249 Abs. 3 EG i.V. mit einer Richtlinie die den Mitgliedstaaten selbst auferlegte zwingende Pflicht, alle erforderlichen Maßnahmen zur Erreichung des durch diese Richtlinie vorgeschriebenen Ziels zu treffen, denn eine Richtlinie entfaltet schon vom Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung oder Bekanntgabe an Rechtswirkung gegenüber den Mitgliedsstaaten. Diese Pflicht, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, damit das Richtlinienziel umgesetzt werden kann, obliegt sämtlichen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedsstaaten - und damit auch den Gerichten im Rahmen ihrer Zuständigkeit (vgl. EuGH, Urteil vom 24.10.1996, - C-72/95 - , DVBl. 1997, 40 ff. m.w.N.). Für den Bereich des Ausländer- und Asylrechts bedeutet dies, dass vor Ablauf der Umsetzungsfrist oder der Verkündung des Umsetzungsgesetzes regelmäßig keine vom Instanzrichter zwingend zu beachtende Vorwirkung von EG-Richtlinien anzunehmen ist, weil durch abweichende Entscheidungen in Einzelfällen das Ziel der Richtlinie nicht vereitelt wird. Doch ist er im Hinblick auf Art. 10 EG nicht gehindert, im Rahmen der gemeinschaftskonformen Auslegung nationaler Rechtsnormen die Tatsache des Erlasses einer solchen Richtlinie und ihren Inhalt zu berücksichtigen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -, VBlBW 2005, 3003 ff. m.w.N.).

Wie andere Verwaltungsgerichte (vgl. VG Köln, Urteile vom 10.06.2005 -18 K 4074/04.A - und vom 01.07.2005 -18 K 7716/04.A -, VG München, Urteil vom 20.07.2005 - M 3 K 05.50680, Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 30.06.2005 - 6 A 59/05 und VG Dresden, Urteil vom 27.05.2005 - A 2 K 30684/04 -, AuAS 2005, 207 ff.; vgl. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 - hinsichtlich § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG) geht deshalb die Kammer aufgrund des Erlasses der Richtlinie, die demnächst in nationales Recht umgesetzt werden muss, davon aus, dass die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 erst dann vorliegen, wenn aufgrund nachhaltiger und dauerhafter Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat eine effektive Schutzgewährung unter Beachtung des Zumutbarkeitskriteriums des Art. 1. C Nr. 5 GFK und Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der Qualifikationsrichtlinie bejaht werden kann. Dies gilt nach heutigem Recht insbesondere deshalb, weil § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 auf § 60 Abs. 1 AufenthG Bezug nimmt und dort - anders als noch in § 51 Abs. 1 AuslG - ausdrücklich auf die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention abgehoben wird. Einem Flüchtling ist es nicht schon dann zumutbar, wieder den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, wenn die konkrete Verfolgungsgefahr, derentwegen er das Land verlassen musste oder derentwegen er den Abschiebungsschutz erhalten hat, nicht mehr besteht. Erforderlich ist darüber hinaus vielmehr, dass ihm bei einer Rückkehr mit hinreichender Sicherheit keine Verfolgung, auch nicht durch Gruppen i. S. des § 60 Abs. 1 S. 4 Buchst. b) oder c) AufenthG droht.

Die Kammer kann es offen lassen, ob nach Art. 1 C Nr. 5 GFK dem Flüchtling eine Rückkehr erst dann zumutbar ist, wenn in seinem Herkunftsstaat eine weitgehend funktionierende Regierung vorhanden ist, die sich grundlegender Verwaltungsstrukturen bedienen kann, um eine angemessene Infrastruktur aufzubauen und zu unterhalten, innerhalb derer die Einwohner ihr Recht auf eine Existenzgrundlage wahrnehmen können (vgl. VG Köln, Urteil vom 01.07.2005 -18 K 7716/04.A -; Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 30.06.2005 - 6 A 59/05 - und Bayerisches VG München, Urteil vom 20.07.2005 - M 3 K 05.50680). Sowohl der Wortlaut als auch Sinn und Zweck der Regelung dürften eine solche Auslegung nahe legen (vgl. auch UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention ["Wegfall-der-Umstände"-Klausel] auf irakische Flüchtlinge vom April 2005, AuAS 2005, 211 ff.). Jedenfalls müssen im Herkunftsland Verhältnisse herrschen, die mit hinreichender Sicherheit eine Verfolgung i. S. des § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließen, denn nur dann ist es einem früheren Flüchtling zumutbar, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen.

Ob diese Voraussetzungen in Bezug auf ein Land gegeben sind, erfordert eine Bewertung der jeweiligen Lage. Hierbei dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden, indem etwa Verhältnisse gefordert werden, wie sie in Europa üblich sind. Allerdings ist es nach Überzeugung der Kammer auch nicht zulässig, wesentliche Aspekte der Schutzgewährung, wie die allgemeine Sicherheitslage, die sich unmittelbar auf die Sicherheit für Leib oder Leben der Betroffenen auswirken kann, bei der Entziehung einer schützenden Rechtsposition gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 auszuklammern und lediglich im Rahmen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu berücksichtigen, zumal wenn der Einzelne mangels staatlich gewährleisteter Sicherheit fürchten muss, Opfer einer Verfolgung i. S. des § 60 Abs. 1 S. 4 Buchst. b) oder c) AufenthG zu werden. Insbesondere wird der Regelungsgehalt des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 verkannt, wenn man trotz erheblicher Gefahren für Leib und Leben die Flüchtlingseigenschaft entzieht und die Betroffenen auf Abschiebungsschutz aufgrund vorübergehender Erlasslagen verweist (so z.B. Bayer. VGH, Beschluss vom 06.08.2004 - 15 ZB 04.30565 -, InfAuslR 2005, 43 - 44 und VG Karlsruhe, Urteil vom 04.02.2005 - A 3 K 11689/04 - zitiert nach Juris).

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft des Klägers gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 nicht vor. Zwar hat sich die Situation im Irak seit der Gewährung von Abschiebungsschutz insoweit grundlegend geändert, als das Regime Saddam Husseins durch den Einsatz amerikanischer und verbündeter Truppen beseitigt worden ist und die damals herrschenden Gruppen keine staatliche Macht mehr ausüben. Nicht abschließend beurteilen lässt sich jedoch, in welchem Umfang Angehörige der früheren Machtsstrukturen in den Terrorgruppen verankert sind und dort entscheidenden Einfluss haben, deren Sprengstoffanschläge und sonstigen Gewaltaktionen in den Städten täglich zahlreiche Todesopfer auch unter der Zivilbevölkerung fordern. Wenn es diesen Gruppen sogar gelingt, gewaltige Mengen an Sprengstoff unmittelbar vor einem extrem bewachten Hotel und unmittelbar danach am Rande des Hotelgeländes zur Explosion zu bringen (vgl. FAZ vom 25.10.2005), spricht vieles dafür, dass sie auch gezielte Terroraktionen gegen frühere Regimekritiker unternehmen könnten, sofern diese in den Irak zurückkehren müssten. Auch wird vermutet, dass viele von ihnen die Sicherheitskräfte unterwandert haben, so dass sich das zukünftige Verhalten dieser Organe in Bezug auf frühere Regimegegner nicht mit Sicherheit vorher sagen lässt (vgl hierzu u.a. NZZ vom 21.06.2005 und vom 14.07.2005 sowie Welt am Sonntag vom 31.07.2005). Solange es der Übergangsregierung noch nicht gelungen ist, einigermaßen stabile rechtsstaatliche Verwaltungsstrukturen zu schaffen, durch die ein etwaiger verwaltungsinterner Machtmissbrauch früherer Regimeangehöriger wirksam unterbunden werden kann, ist im Hinblick auf eine mögliche Verfolgungsgefahr i. S. des § 60 Abs. 1 AufenthG noch keine dauerhafte und stabile Veränderung der Umstände festzustellen.

Sämtlichen Erkenntnisquellen ist zu entnehmen, dass es der Übergangsregierung noch nicht gelungen ist, ihre Macht im gesamten Irak zu etablieren.

Würde der Kläger heute in den Irak zurückkehren, namentlich in seine Heimatstadt Kirkuk, müsste er seitens der Baathisten im Wege der Sippenhaft Übergriffe befürchten, da er ein volljähriges männliches Mitglied einer Familie ist, die zu Zeiten Saddam Husseins als oppositionell eingestuft und auch so behandelt wurde.