VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 11.11.2005 - 5 E 1169/04.A - asyl.net: M7729
https://www.asyl.net/rsdb/M7729
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft aus Pakistan, die von Gegnern der Gemeinschaft entführt und vergewaltigt worden ist; kein staatlicher Schutz vor Übergriffen gegen Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft; kein staatlicher Schutz für Frauen vor Vergewaltigung; keine hinreichende Sicherheit vor erneuten Übergriffen.

 

Schlagwörter: Pakistan, Drittstaatenregelung, Luftweg, Einreise, Glaubwürdigkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Ahmadiyya, religiös motivierte Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Vergewaltigung, Schutzbereitschaft, interne Fluchtalternative, Gruppenverfolgung, außerehelicher Geschlechtsverkehr, Flüchtlingsfrauen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; GG Art. 16a; AsylVfG § 26a
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft aus Pakistan, die von Gegnern der Gemeinschaft entführt und vergewaltigt worden ist; kein staatlicher Schutz vor Übergriffen gegen Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft; kein staatlicher Schutz für Frauen vor Vergewaltigung; keine hinreichende Sicherheit vor erneuten Übergriffen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Klägerin steht jedoch ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu. Soweit nunmehr unter Buchstabe c eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure stattfinden kann, wenn es dem Staat trotz grundsätzlich vorhandener Schutzmöglichkeit an der Schutzbereitschaft fehlt, entspricht diese Regelung der bisher geltenden mittelbaren staatlichen Verfolgung nach Art. 16 a Abs. 1 GG bzw. § 51 Abs. 1 AuslG.

Aufgrund ihrer Angaben im Verwaltungs- und in diesem Klageverfahren ist das Gericht von der pakistanischen Staatsangehörigkeit der Klägerin überzeugt. Es hegt auch keine Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft.

Auf dem Wege von der Polizeistation zum Bus, mit welchem sie nach Hause (in die Wohnung in Faisalabad) zu ihrer Mutter fahren wollten, wurde die Klägerin von 3 bärtigen Männern entführt. Diese überholten sie und den Bruder in einem Auto, stiegen aus, schossen um sich, schlugen den Bruder und zerrten die Klägerin in das Auto. Keiner der Passanten griff ein. Die Männer verbanden der Klägerin dann die Augen, verklebten ihr den Mund und fesselten sie und brachten sie in ein Haus. Sie warfen der Klägerin vor, sie hätten sie doch schon mehrfach aufgefordert, von ihrem Glauben abzulassen und sie habe nicht auf sie gehört. Dies habe nunmehr Konsequenzen. Im Haus vergewaltigte einer der Männer die Klägerin.

Der der Klägerin durch den radikalen Ahmadi-Gegner zugefügte erhebliche Eingriff in ihre körperliche Integrität stellt auch eine politische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG dar. Es handelt sich um einen Angriff nichtstaatlicher Akteure, deren individuelle Verfolgungsmaßnahmen der Staat tatenlos hinnimmt und damit nicht Willens ist, den Betroffenen Schutz vor Verfolgung zu bieten, obwohl er grundsätzlich dazu in der Lage wäre (§ 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG).

Nach Auffassung des Gerichts fehlte es dem pakistanischen Staat für den Zeitraum nach Erlass der Ordinance XX vom 26.04.1984 bis zum Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin grundsätzlich an der Schutzbereitschaft bei Übergriffen moslemischer Mitbürger gegen einzelne Ahmadis (so auch HessVGH, Urt. v. 15.03.1.995, Dokument 26).

Auch nach dem Ende der Regierung Zia ul-Hags in den Amtszeiten von Benazir Bhutto und Nawaz Sharif fehlte es dem pakistanischen Staat an der erforderlichen Schutzbereitschaft bei Übergriffen Dritter gegen Ahmadis. Dies hat sich unter der Regierung Pervez Musharraf nicht geändert.

Der danach in ihrer Heimatregion verfolgten Klägerin stand in Pakistan auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative (vgl. § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG) zur Verfügung. Im Hinblick auf die der Klägerin bereits zugefügten Verfolgungsmaßnahmen und den insoweit anzuwendenden "herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab" wäre für sie eine inländische Fluchtalternative nur vorhanden gewesen, wenn sie in anderen Landesteilen vor politischer Verfolgung hinreichend sicher gewesen wäre und ihr auch keine anderen Nachteile und Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gedroht hätten, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichgekommen wären, sofern diese existenzielle Gefährdung an ihrem Herkunftsort so nicht bestanden hätte (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315).

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Urteil vom 15.03.1995 - 10 UE 102/94 - (Dokument Nr. 26) zur Beurteilung einer inländischen Fluchtalternative für in ihrer Heimatregion verfolgte Ahmadis eine solche Fluchtalternative verneint. Dem folgt das Gericht.

Hat die Klägerin danach ihr Heimatland Anfang des Jahres 2002 als politisch Verfolgte verlassen, so ist bei Anwendung des in diesem Fall geltenden sogenannten herabgeminderten Prognosemaßstabes im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland zum jetzigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft die Gefahr einer politischen Verfolgung nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen.

Dabei kann dahin stehen, ob gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft von einer mittelbaren oder unmittelbaren gruppengerichteten Verfolgung der Ahmadis in Pakistan auszugehen ist. Das Gericht verneint dies in ständiger Rechtsprechung und folgt insoweit der Einschätzung des Hess VGH (z.B. Urteil vom 06.02.2004 - 7 UE 2739/03.A -, Dokument Nr. 52). Jedenfalls lässt sich eine religiös motivierte politische (Einzel-)Verfolgung nicht mit genügender Sicherheit ausschließen. Dies ergibt sich aus den Übergriffen gegen Ahmadis auch aus letzter Zeit, die in allen Landesteilen nicht nur gegen prominente Ahmadis gerichtet waren und nach wie vor eine unzureichende staatliche Schutzbereitschaft erkennen lassen. Hinzu kommt die weiter bestehende Anti-Ahmadiyya-Agitation. Eine entscheidende Verbesserung des staatlichen Schutzes ist auch für die absehbare Zukunft nicht zu erwarten. Auch derzeit werden Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit von Ahmadis von staatlichen Stellen in der Regel tatenlos hingenommen (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20.04.2003 und vom 11.03.2005, Dokumente Nrn. 54 und 55).

Wenn man - anders als das Gericht - die Einschätzung vertritt, die Klägerin habe nicht überzeugend dargelegt, dass sie wegen ihres Glaubens vergewaltigt worden sei, hätte sie durch den Vorfall gleichwohl eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 GG [sic!] - und zwar des § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG - erlitten. Es liegt dann eine geschlechtsspezifische Verfolgung dar. Die Klägerin hat aufgrund ihrer Eigenschaft als Frau einen von seiner Schwere asylrelevanten Eingriff in ihre körperliche und psychische Unversehrtheit erlitten. Diese Tat geschah zwar durch nichtstaatliche Akteure. Der pakistanische Staat ist aber erwiesenermaßen nicht willens, Frauen vor Vergewaltigungen bzw. vergewaltigten Frauen ausreichend Schutz zu bieten. So wird in den neueren Lageberichten des Auswärtigen Amtes durchgängig darauf hingewiesen, dass zum Beispiel durch die Islamisierung des pakistanischen Strafgesetzbuches in den Jahren 1979 und 1991 sich die Lage der Frau verschlechtert hat. So wird u.a. ausgeführt: "Beweislast und Gewichtung von Zeugenaussagen männlicher und weiblicher Zeugen sind zum Nachteil von Frauen ausgelegt. So müssen beispielsweise 4 Männer eine Vergewaltigung bezeugen können, damit diese als bewiesen gilt. Eine Voraussetzung, die kaum jemals gegeben sein dürfte" (Lageberichte vom 08.08.2003 und vom 20.04.2004). Nicht selten würde Opfern von Vergewaltigungen im Nachhinein "Ehebruch" unterstellt, der nach dem sogenannten "Zina-Gesetz" strafbar sei. Dieses Gesetz stelle den außerehelichen Geschlechtsverkehr generell unter Strafe. Zwischen 1/3 und der Hälfte aller weiblichen Untersuchungsgefangenen seien deswegen in Haft (z.B. Lageberichte vom 16.05.2001, 08.08.2003 und 20.04.204). Schon aufgrund dieser gesetzlichen Vorgaben bietet der pakistanische Staat Frauen keinen Schutz vor Vergewaltigung. Aus diesem Grund reicht die Gewalt gegen Frau in Pakistan hin bis zu Vergewaltigungen in Polizeistationen (so Lageberichte a.a.O.). Nach Angaben der nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisation HRCP wurden allein in der ersten Hälfte des Jahres 2002 mehr als 160 Vergewaltigungen, davon 70 Gruppenvergewaltigungen, dokumentiert (Lagebericht vom 08.08.2003). Im Jahre 2003 dokumentierte die HRCP landesweit Vergewaltigung von über 2000 Frauen (Lagebericht vom 20.04.2004).

Für die Klägerin bestand zum Zeitpunkt ihrer Ausreise auch keine innerstaatliche Fluchtalternative. Eine solche mag das Gericht unter Zugrundelegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes der "hinreichenden Sicherheit", wie er bisher im Rahmen des § 51 Abs. 1 AuslG angewandt wurde, nicht zu erkennen. Zwar droht einer unverheirateten, nicht im Familienverband ihres Ehemannes lebenden Frau in Pakistan keineswegs landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Vergewaltigung. Insbesondere aufgrund der vorgenannten Zahlen ist es aber nicht hinreichend sicher auszuschließen, dass eine Frau in Pakistan Opfer einer Vergewaltigung wird. Daran hat sich in der Zeit seit der Ausreise der Klägerin aus Pakistan bis heute nichts geändert.