VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 16.02.2006 - 14 A 62/99 - asyl.net: M7870
https://www.asyl.net/rsdb/M7870
Leitsatz:

Geschlechtsspezifische Verfolgung gegen Frauen, die sich nicht religiös begründeten Verhaltensnormen, insbesondere Bekleidungsvorschriften (hier im Iran), unterwerfen wollen.

 

Schlagwörter: Iran, Christen, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Flüchtlingsfrauen, religiös motivierte Verfolgung, Bekleidungsvorschriften, mittelbare Verfolgung, sexuelle Gewalt, Vergewaltigung, Situation bei Rückkehr, westliche Orientierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Geschlechtsspezifische Verfolgung gegen Frauen, die sich nicht religiös begründeten Verhaltensnormen, insbesondere Bekleidungsvorschriften (hier im Iran), unterwerfen wollen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen bei der Klägerin hinsichtlich Iran vor.

Auch religiöse Verfolgung kann den Flüchtlingsschutz auslösen, wobei es unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungshandlung unerheblich ist, ob die Verfolgung vom Staat ausgeht oder ihm zuzurechnen ist (Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates). Geschützt sind theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen (Art. 10 Abs. 1 b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates).

Das Gericht geht in Anwendung der vorstehenden Grundsätze und im Hinblick auf die Situation im Iran davon aus, dass der Klägerin als einer Frau, die nach außen erkennbar einen westlichen Lebensstil zeigt und nicht bereit ist, sich islamischen Wertvorstellungen anzupassen, nach einer Einreise in den Iran dort heute eine geschlechtsspezifische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würde. Bei der Entscheidung für eine westlich-orientierte Lebensweise auch in einer islamisch geprägten Umwelt handelt es sich um die Ausübung eines Freiheitsrechts im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG. Die Norm des § 60 Abs. 1 AufenthG stellt im Gegensatz zu dem bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG klar, dass auch die Anknüpfung der Verfolgungsmaßnahmen an das Geschlecht der verfolgten Person schon asylrelevant sein kann als Kriterium der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Eine solche geschlechtsspezifische Verfolgung kann dabei nicht nur in der Ausübung sexueller Gewalt liegen, sondern auch in der gesetzlichen Entrechtung oder Ausgrenzung von Frauen in menschenrechtswidriger Weise. Geschützt sind danach auch Frauen, die Verfolgung befürchten müssen, weil sie mit ihrer selbstgewählten oder ihrer Biografie entsprechenden westlich orientierten Lebensweise in ihrem religiös oder sonst weltanschaulich geprägten Heimatland gegen rechtliche oder gesellschaftliche Verhaltensnormen verstoßen, wenn die gegen sie ergriffenen Maßnahmen von ihrer Intensität her politischer Verfolgung entsprechen. Dabei sind auch die von der Frau verlangten Einschnitte in ihre persönliche Freiheit in ihrer Intensität zu berücksichtigen. Generell wird man sagen können, je geringer diese Einschnitte sind, um so eher kann eine Beachtung der Verhaltensnormen verlangt werden, je erheblicher diese Einschnitte sind, um so eher ist eine Eingriff in die Menschenwürde gegeben und die staatliche oder gesellschaftliche Reaktion stellt politische Verfolgung dar.

Für den vorliegenden Fall bedeutet dass, dass die Klägerin, die, wie sie in der mündlichen Verhandlung eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, aufgrund ihrer westlich säkular ausgerichteten Lebensweise nicht bereit ist, sich religiös begründeten Verhaltensnormen zu unterwerfen, die nicht einmal die Normen ihrer eigenen, sondern einer fremden Religion sind, bei einer Einreise in den Iran innerhalb kurzer Zeit mit den dortigen rechtlichen und religiös-moralischen Gegebenheiten in Konflikt geraten würde, was mit Sicherheit staatliche Reaktionen hervorrufen würde. Dabei sieht das Gericht die im Iran operierenden Gruppen, die die öffentliche Moral im Sinne der herrschenden Religionsführer überwachen, als dem Staat zuzurechnende Gruppierungen an. Frauen, die sich den herrschenden patriarchalischen Sitten nicht zu unterwerfen bereits sind, insbesondere nicht die herrschende Verhüllungspraxis und die Einschränkung der Menschenrechte der Frauen zu akzeptieren bereit sind, sind im Iran, wie sich aus den insoweit in das Verfahren eingeführten Unterlagen (insbesondere den von der Beklagten selbst herausgegebenen Berichte) entnehmen lässt, vielfältigen strafrechtlichen und sonstigen Maßnahmen wie auch willkürlichen Übergriffen der genannten Gruppen unterworfen. Dieses wird durch die neue iranische Regierung unter dem Präsidenten Ahmadinejad offenbar verschärft, wie unter anderem die Meldung belegt, dass verschärft auf die Einhaltung der islamischen Bekleidungsordnung geachtet werden solle (z.B. Bundesamt - Erkenntnisse Iran, Oktober 2005, S. 39, Dok. Iran Nr. 900). Auch die Bestrafung einer iranischen Studentin, die sich gegen eine Vergewaltigung wehrte und dabei einen Angreifer tötete, mit der Todesstrafe durch ein iranisches Gericht mit der Begründung, es sei ein Exempel, damit keine Frau es mehr wage, ihre Hand gegen einen Mann zu erheben, ist ein beredtes Beispiel für die Missachtung der weiblichen Würde (s. die in die mündliche Verhandlung eingeführten Internet-Ausdrucke, u.a.: www.spiegel.de/panorama/0,1518,druck-395085,00.html).

Die Klägerin würde mit Sicherheit in Iran innerhalb kürzerer Zeit erheblichen erhebliche staatliche Repressalien auf sich ziehen, die von ihrer Intensität politische Verfolgung zumindest Eingriffe in ihre Freiheit, wenn nicht sogar in ihre Gesundheit bedeuten, selbst wenn eine Gefahr der Todesstrafe nicht überwiegend wahrscheinlich wäre. Dies gilt um so mehr, als sie, die nicht in diese islamische Gesellschaft hineinerzogen wurde, sondern ihr Leben aufgrund ihrer Biografie nach westlich säkularen Werten ausgerichtet hat, bei einer Rückkehr in den Iran nicht einmal alle Vorschriften kennt, die sie nach den dortigen islamischen Vorstellungen einzuhalten hätte.