OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 01.02.2006 - 3 B 35.05 - asyl.net: M7884
https://www.asyl.net/rsdb/M7884
Leitsatz:
Schlagwörter: Asylantrag, Antragsfiktion, Kinder, Rückwirkung, Übergangsregelung, in Deutschland geborene Kinder, Zuwanderungsgesetz, Altfälle
Normen: AsylVfG § 14a Abs. 2
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben, weil der angefochtene Bescheid der Beklagten rechtswidrig ist. Diese Rechtswidrigkeit folgt - wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat - aus dem Fehlen einer rechtlich beachtlichen Asylantragstellung durch die Kläger.

2. Die Regelung des § 14 a Abs. 2 AsylVfG greift vorliegend gleichfalls nicht ein. Nach § 14 a Abs. 2 AsylVfG ist es dem Bundesamt unverzüglich anzuzeigen, wenn ein lediges, unter 16 Jahre altes Kind des Ausländers nach dessen Asylantragstellung in das Bundesgebiet einreist oder hier geboren wird, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltsgestattung besitzt oder sich nach Abschluss seines Asylverfahrens ohne Aufenthaltstitel oder mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG im Bundesgebiet aufhält (Satz 1). Die Anzeigepflicht obliegt neben dem Vertreter des Kindes im Sinne von § 12 Abs. 3 AsylVfG auch der Ausländerbehörde (Satz 2). Mit Zugang der Anzeige beim Bundesamt gilt ein Asylantrag für das Kind als gestellt (Satz 3). Die Norm ist durch Art. 3 Nr. 10 des Zuwanderungsgesetzes (ZuwG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I, 1950) mit Wirkung vom 1. Januar 2005 (Art. 15 Abs. 3 ZuwG) in das Asylverfahrensgesetz eingefügt worden. Die Kläger sind vor diesem Zeitpunkt in den Jahren 2000 und 2001 geboren worden. Sie unterfallen der Regelung nicht.

a) Dies folgt allerdings nicht schon daraus, dass die Anwendung der Norm auf die Kläger eine tatbestandliche Rückanknüpfung beinhalten würde. Eine solche "unechte" Rückwirkung, die tatbestandlich an Sachverhalte anknüpft, die vor dem Inkrafttreten der Norm liegen, Rechtsfolgen aber erst für die Zeit nach dem Inkrafttreten anordnet, ist grundsätzlich statthaft (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. Februar 2004, BVerfGE 109, 133 [181] m. w. N.). Bei solchen Gesetzen wird den allgemeinen Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit kein genereller Vorrang vor dem jeweils verfolgten gesetzgeberischen Anliegen eingeräumt.

b) Maßgeblich für die Unanwendbarkeit des § 14 a Abs. 2 AsylVfG auf die Kläger ist der Wortlaut der Norm. Der Gesetzeswortlaut bildet stets die Grenze der Auslegbarkeit eines Gesetzes (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. April 1994, NJW 1994, 2475 [2476]). Dabei spricht die durchgängige Verwendung von Präsensformulierungen in § 14 a Abs. 2 AsylVfG für sich allein betrachtet nicht gegen eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Rückanknüpfung an Anzeigetatbestände, die bereits vor dem In-Kraft-Treten des Gesetzes eingetreten waren. Denn die Geburt oder Einreise eines Kindes eines Asylbewerbers oder ehemaligen Asylbewerbers "nach dessen Asylantragstellung" kann auch schon vor dem 1. Januar 2005 erfolgt sein. Die Präsensform gewinnt aber Bedeutung im Hinblick auf die vom Gesetzgeber statuierte Rechtsfolge des § 14 a Abs. 2 AsylVfG, nämlich die Verpflichtung, Geburt oder Einreise dem Bundesamt "unverzüglich" anzuzeigen. Damit wird - wie schon das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat - ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Eintritt des tatbestandlichen Ereignisses Geburt oder Einreise einerseits und der Erfüllung der daraus erwachsenden Verpflichtung zur Anzeige des Ereignisses beim Bundesamt andererseits hergestellt.

Dieser Zusammenhang wäre nicht gewahrt, wenn § 14 a Abs. 2 AsylVfG auf alle vor dem In-Kraft-Treten der Norm am 1. Januar 2005 erfolgten Einreisen oder Geburten, die - wie im Fall der Kläger - schon Jahre zurückliegen können, Anwendung fände. Für diese Fälle gilt § 14 a Abs. 2 AsylVfG deshalb nicht (im Ergebnis ebenso OVG Münster, Beschluss vom 13. Juni 2005 - 18 B 901/05 -; VG Göttingen, Beschluss vom 24. November 2005 - 2 B 507/05 - VG Chemnitz, Beschluss vom 22. September 2005 - A 2 K 661/05 -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 20. September 2005 - 20 L 1752105.A -; VG Hannover, Beschluss vom 16. September 2005 - 6 B 5284/05 -; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 8. August 2005 - la L 991/05.A -; VG Lüneburg, Beschluss vom 1. August 2005 - 4 B 31/05 -; VG Braunschweig, Urteil vom 8. Juli 2005 - 6 A 151/05 -; VG Oldenburg, Beschluss vom 22. Juni 2005 - 11 B 2465/05 -; a. A. VGH Kassel, Beschluss vom 3. August 2005 - 4 UZ 1961/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 15. September 2005 - A 8 K 12592/05 -, VG Osnabrück, Urteil vom 5. September 2005 - 5 A 374/05 -; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5. August 2005 - 4a L 800/05.A -; VG Arnsberg, Beschluss vom 1. August 2005 - 3 L 601/05.A -; VG Lüneburg, Beschluss vom 21. Juni 2005 - 2 B 24105 -; VG Minden, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 11 L 359/05.A -, AuAS 2005, 180 [Leitsatz]).

Die Unverzüglichkeit der Anzeige ist in diesen Fällen auch nicht dadurch einzuhalten, dass sie ohne Verzögerung nach dem In-Kraft-Treten der Regelung am 1. Januar 2005 erfolgt. Eine solche Auslegung ist vom Wortlaut der Norm nicht mehr gedeckt, weil Anknüpfungspunkt für die Unverzüglichkeit der Anzeige dann nicht mehr das normativ festgeschriebene Ereignis der Geburt oder Einreise wäre. Stattdessen würde auf einen außerhalb der Norm liegenden Umstand abgestellt, auf den die Norm selbst nicht verweist. Dies wäre mit dem Gebot der Normklarheit nicht zu vereinbaren. Dieses aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Gebot erfordert, dass die Normadressaten die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können. Sie müssen in zumutbarer Weise feststellen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Rechtsfolge gegeben sind (BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 2001, BVerfGE 103, 332 [384]; s. a. Beschluss vom 23. April 1974, BVerfGE 37, 132 [142] und Beschluss vom 14. Februar 1978, BVerfGE 47. 239 [252]). In § 14 a Abs. 2 AsylVfG ist für den Normadressaten aufgrund des Begriffes der "Unverzüglichkeit" der Anzeige der Geburt oder der Einreise des Kindes nicht erkennbar, dass eine Anzeigepflicht auch für "Altfälle" bestehen könnte, bei denen die Geburt oder die Einreise schon geraume Zeit zurückliegt. Daher verbietet sich auch eine analoge Anwendung von § 14 a Abs. 2 AsylVfG auf Geburten bzw. Einreisen vor dem 1. Januar 2005 (so aber VG Gießen, Beschluss vom 17. August 2005 - 8 G 1802105.A -).

c) Dieses Ergebnis widerspricht nicht der gesetzgeberischen Intention, wie sie sich aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt (BT-Drs. 15/420, S. 108). Danach soll durch die Fiktion der Asylantragstellung für ledige Kinder bis zum vollendeten 16. Lebensjahr verhindert werden, dass durch sukzessive Asylantragstellung überlange Aufenthaltszeiten in Deutschland ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive für die Betroffenen entstehen. Damit sollen auch die in der Vergangenheit regelmäßig als notwendig erachteten Altfall- und Härtefallregelungen weitgehend entfallen können. Diese Absicht wird auch durch die Anwendung des § 14 a Abs. 2 AsylVfG auf gegenwärtige Fallkonstellationen verwirklicht. Für nach dem 1. Januar 2005 geborene oder eingereiste Kinder ist eine spätere Asylantragstellung, um so für die Gesamtfamilie eine Verlängerung der Aufenthaltszeit zu erreichen, ausgeschlossen. Die rückwirkende Anwendung des § 14 a Abs. 2 AsylVfG würde der Norm zwar einen weitergehenden Anwendungsbereich eröffnen. Die davon erfassten Fälle lassen sich aber über § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG lösen, wonach ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, wenn er für einen handlungsunfähigen Ausländer gestellt wird, nachdem zuvor Asylanträge der Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils unanfechtbar abgelehnt worden sind. In diesen Fällen bietet § 36 AsylVfG das gesetzliche Instrumentarium für einen beschleunigten Verfahrensabschluss.

d) Nicht durchgreifend ist schließlich das Vorbringen der Beklagten, die Anwendung des § 14 a Abs. 2 AsylVfG auf alle Kinder von Asylbewerbern unter 16 Jahren - unabhängig vom Zeitpunkt der Geburt oder Einreise - sei deshalb notwendig, weil ein Antrag auf Familienasyl nach der Neufassung des § 26 Abs. 2 AsylVfG nicht mehr unverzüglich zu stellen sei. Insofern ist festzustellen, dass sich die Rechtslage bezogen auf den Fall der Geburt im Inland nach der Asylanerkennung des Stammberechtigten nicht geändert hat. § 26 Abs. 2 S. 2 AsylVfG sieht insoweit unverändert eine Asylantragstellung binnen Jahresfrist nach der Geburt vor. Etwas anderes gilt nach der Neufassung des § 26 Abs. 2 S. 1 AsylVfG für die nachgereisten Kinder. Für sie ist - anders als nach § 26 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG a.F. - keine unverzügliche Antragstellung mehr erforderlich. Allerdings ist dies für Fälle ab dem 1. Januar 2005 wegen der Regelung des § 14 a AsylVfG auch entbehrlich, weil diese eine gleichzeitige Asylantragstellung für die Kinder anordnet bzw. die unverzügliche Nachholung der Antragstellung nach Einreise oder Geburt der Kinder sicherstellt. Familienasylberechtigte aus der Zeit vor dem 1. Januar 2005, deren Verfahren noch nicht bestandskräftig oder rechtskräftig nach der alten Rechtslage abgeschlossen sind, können sich zwar ggf. auf die großzügigere Neuregelung des § 26 Abs. 2 S. 1 AsylVfG bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres berufen. Dies nimmt der Gesetzgeber offenbar in Kauf, weil ein daraus erwachsender Missstand nicht zu erkennen ist. Insbesondere trifft auf Kinder, die Familienasyl beanspruchen können, die Intention des § 14 a AsylVfG nicht zu, überlange Aufenthaltszeiten in Deutschland ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive zu vermeiden.