OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 24.02.2006 - 7 B 10020/06.OVG - asyl.net: M7963
https://www.asyl.net/rsdb/M7963
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Integration, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, Aufenthaltsdauer, Duldung, Aufenthaltsbefugnis, Privatleben, Schutz von Ehe und Familie, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Ausländerbehörde, Zuständigkeit, Prüfungskompetenz, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Lebensunterhalt, Ermessen
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8; GG Art. 6; AufenthG § 5 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

Indessen war durch einstweilige Anordnung die Abschiebung der Antragsteller vorerst zu verhindern, weil im Falle aller Antragsteller einiges dafür spricht, dass gemäß Art. 8 EMRK ein Vollstreckungshindernis besteht und die Antragsteller deshalb sogar einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis i.S.v. § 25 Abs. 5 AufenthG haben, ohne dass insoweit der von Amts wegen zu ermittelnde Sachverhalt geklärt ist und ohne dass der Antragsgegner das ihm eröffnete Ermessen ausgeübt hätte. Wegen der damit verbundenen irreparablen Nachteile ist eine Abschiebung für die Antragsteller vor der Sachverhaltsermittlung jedoch unzumutbar. Da diese allerdings im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden kann, ist eine einstweilige Anordnung vorerst nur bis zum Ergehen des Widerspruchsbescheides nötig.

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Absatz 2 dieser Bestimmung ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieser Rechte nur statthaft, insoweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral und zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Soweit insbesondere die Antragstellerinnen zu 3) und 4) geltend machen, die vom Antragsgegner beabsichtigte Beendigung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet berühre ihr hier verwurzeltes Privatleben i.S.v. Art. 8 Abs. 1 EMRK, ist dies nicht von vornherein von der Hand zu weisen. Die am 4. Mai 1991 geborene Antragstellerin zu 3) und die am 26. Juni 1992 geborene Antragstellerin zu 4) sind Anfang September 1993, also als Kleinkinder im Alter von 2 1/4 bzw. 1 1/4 Jahren, zusammen mit ihren Eltern in das Bundesgebiet eingereist und leben hier nun seit 12 1/2 Jahren. Allerdings folgt aus Art. 8 EMRK grundsätzlich kein Recht eines Ausländers, in ein bestimmtes Land einzureisen und sich dort aufzuhalten (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juni 2005 - 60654/00 - "Sisojewa", InfAuslR 2005, 349, sowie Entscheidungen vom 17. Oktober 2004 - 33743/03 - "Dragan", NVwZ 2005, 1043 [1045], und vom 16. Juni 2004 - 11103/03 - "Ghiban", NVwZ 2005, 1046; vgl. ferner BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1997 - 1 C 18.96 -, NVwZ 1989, 189 m.w.N.). Vielmehr bedarf es näherer Anhaltspunkte dafür, dass ein Ausländer nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht auf das Land seiner Staatsangehörigkeit verwiesen werden kann. Dies kommt etwa dann in Betracht, wenn ein Ausländer in einem anderen Staat aufgrund seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist und ihm wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug hat, nicht zugemutet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 8.96 -, NVwZ 1999, 303 [305]).

Maßgeblich ist deshalb zum einen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters und seiner persönlichen Befähigung in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Gesichtspunkte sind insoweit insbesondere die Dauer und der Grund seines Aufenthalts in Deutschland sowie dessen rechtlicher Status, der Stand seiner Kenntnisse der deutschen Sprache in Wort und Schrift, seine berufliche Tätigkeit und seine wirtschaftlichen Integration bzw. bei einem Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen seine Integration in eine Schul-, Hochschul- oder Berufsausbildung, seine Wohnverhältnisse, seine sozialen Kontakte sowie die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote. Zum anderen ist maßgeblich, welche Schwierigkeiten für den Ausländer - wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters und seiner persönlichen Befähigung - mit einer (Re-)Integration in das Land seiner Herkunft bzw. Staatsangehörigkeit verbunden sind. Gesichtspunkte sind diesbezüglich vor allem, inwieweit Kenntnisse der dort gesprochenen und geschriebenen Sprache bestehen bzw. erworben werden können, inwieweit der Ausländer mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist und inwieweit er dort bei der (Wieder-)Eingliederung auf Hilfestellung durch Verwandte und sonstige Dritte rechnen kann, soweit diese erforderlich sein sollte (vgl. insgesamt VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. November 2005 - 1 S 3023/04 -, InfAuslR 2006, 70 [71], VG Stuttgart, Urteil vom 22. November 2005 - 12 K 2469.04 -, InfAuslR 2006, 72 [74], VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Dezember 2005 - 6 K 5.04 -, juris.de sowie VG Darmstadt, Beschluss vom 21. Dezember 2005 - 8 G 2120/05(2) -, Asylmagazin 2006, 39 f., alle m.w.N.).

Sofern Art. 8 EMRK einer Abschiebung der Antragsteller aus Deutschland entgegenstehen sollte, so hätten sie allerdings keinen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Zwar verweist diese Bestimmung auf § 60 Abs. 5 AufenthG, die aber ihrerseits auf die Regelungen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nur insoweit verweist, als es sich dabei um "zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse handelt. Denn § 60 Abs. 5 AufenthG entspricht inhaltlich § 53 Abs. 4 AuslG. Diese Bestimmung verwies auf die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten lediglich insoweit, als sich aus ihr Abschiebungshindernisse ergeben, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Hindernisse, die einer Vollstreckung der Ausreisepflicht entgegenstehen, weil anderenfalls ein geschütztes Rechtsgut im Bundesgebiet wie etwa das Privat- und Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK verletzt würde ("inlandsbezogene" Vollstreckungshindernisse), fielen nicht unter § 53 Abs. 4 AuslG und waren daher auch nicht etwa im Asylverfahren vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zu berücksichtigen, sondern erst von der für die Vollstreckung der Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde (ständige Rechtsprechung seit BVerwG, Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -, BVerwGE 105, 322 = InfAuslR 1998, 121). Dass der Regelung des § 60 Abs. 5 AufenthG ein anderes Verständnis zugrunde liegen würde, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil hat der Gesetzgeber die Unterscheidung in zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse und inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse bewusst aufgegriffen, wie sich aus § 72 Abs. 2 AufenthG ergibt, gleichwohl aber § 60 Abs. 5 AufenthG als inhaltliche Entsprechung von § 53 Abs. 4 AuslG schaffen wollen (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 91). Zwar mag es gute Gründe dafür geben, die Privilegierungen in § 25 Abs. 3 Satz 1 und in § 5 Abs. 3 Halbsatz 1 AufenthG nicht nur bei zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen vorzusehen, sondern auch dann, wenn Art. 8 EMRK bzw. Art. 6 GG einer Abschiebung entgegensteht. Der Gesetzgeber hat dies bislang aber nicht getan, sondern in § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zwar auf § 60 Abs. 5 AufenthG verwiesen, der seinerseits aber - wie aufgezeigt - auf die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nur bezüglich zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse verweist (ebenso Storr in Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Zimmermann-Krehn, Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, § 25 AufenthG, Rdnr. 6 und Benassi, InfAuslR 2005, 357 [360 f] m.w.N. für die Gegenansicht; vgl. auch Groß, ZAR 2005, 61 [64] und VG Stuttgart, Urteil vom 22. November 2005 - 12 K 2469.04 -, a.a.O. S. 72; a.A. - VG Darmstadt, Beschluss vom 21. Dezember 2005 - 8 G 2120105(2) -, a.a.O. S. 39 aufgrund einer "vorläufigen rechtlichen Bewertung").

Hingegen kann der Antragsgegner den Antragstellern nach seinem Ermessen gemäß § 25 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 5 Abs. 3 Halbsatz 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, sollte Art. 8 EMRK bzw. Art. 6 GG einer Abschiebung der Antragsteller aus Deutschland entgegenstehen. Aufgrund der Ablehnung des Antrages der Antragsteller auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen durch den Bescheid vom 19. September 2005 sind diese gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig geworden; nach Auffassung des Senats kann eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aber auch dann erteilt werden, wenn zwar erst durch die Ablehnung eines Erteilungsantrages die Ausreisepflicht vollziehbar wird, dies dann aber im Widerspruchsverfahren - mit für die Ausländerbehörde nachteiligen Kostenfolgen - zu berücksichtigen ist. Sollte Art. 8 EMRK bzw. Art. 6 GG einer Abschiebung der Antragsteller aus Deutschland entgegenstehen, so wäre ihre Ausreise im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG "aus rechtlichen Gründen unmöglich", ohne dass mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit zu rechnen wäre. Auch ein "Verschulden" der Antragsteller am Bestehen des Ausreisehindernisses im Sinne von § 25 Abs. 5 Sätze 3 und 4 AufenthG lägen nicht vor. Bei der mit Blick auf den Bezug ergänzender Sozialhilfe durch die Antragsteller auch gemäß § 5 Abs. 3 Halbsatz 2 AufenthG gebotenen Ermessensausübung würde zu beachten sein, dass der Aufenthalt der Antragsteller zwar nicht bereits 18 Monate lang geduldet ist (vgl. § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG), bis kurz vor der Antragstellung indessen 7 1/4 Jahre und beim Antragsteller zu 1) 8 1/2 Jahre lang sogar genehmigt war. Ferner wäre zu berücksichtigen, dass es dann mangels der rechtlichen Unmöglichkeit einer Ausreise nicht um eine Entscheidung für oder gegen den weiteren Aufenthalt der Antragsteller in Deutschland ginge, sodass sich durch eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis an der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel voraussichtlich nichts ändern würde. Deshalb könnte, sollte der Antragsteller zu 1) jedenfalls inzwischen ernsthafte und nachhaltige Bemühungen um einen Arbeitsplatz nachweisen, durchaus dem privaten Interesse der Antragsteller der Vorrang vor dem öffentlichen Interesse eingeräumt werden, zumal ein Arbeitsplatz mit einer Aufenthaltserlaubnis leichter zu finden sein dürfte als mit einer Duldung (vgl. auch Göbel-Zimmermann, ZAR 2005, 275 [281] und zu § 30 Abs. 3 AuslG VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 1998 - 13 S 3121/96 -, InfAuslR 1999, 133 [135]).