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Zitieren als:
, Bescheid vom 03.02.2006 - 5197415-160 - asyl.net: M7982
https://www.asyl.net/rsdb/M7982
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Krankheit, Abschiebungshindernis, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit, Armenier, Tschetschenien, medizinische Versorgung, Registrierung, Freizügigkeit, Staatenlose
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Der Antragsteller ist nach seinen Angaben staatenloser Armenier aus der Russischen Föderation und hat bereits unter Aktenzeichen 2 688 469 - 160 Asyl in der Bundesrepublik Deutschland beantragt.

Am 10.01.2006 (Eingang beim Bundesamt) stellte der Antragsteller schriftsätzlich über seinen Verfahrensbevollmächtigten einen auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG beschränkten Antrag.

Dem Antrag wird insofern entsprochen, als festgestellt wird, dass die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich der Russischen Föderation vorliegen.

Die vorgelegten Atteste belegen nachvollziehbar eine schwere psychische Erkrankung mit massiver Ausstrahlung auf die Physis des Antragstellers. In der Gesamtschau aller Umstände stehen die Angaben des Antragstellers gegenüber seinen Ärzten in Kontinuität zum Vorbringen aus dem Vorverfahren, auch wenn sich nicht alle Aspekte entsprechend widerspiegeln und teils sogar widersprüchlich zum Vorverfahren sind, wie etwa die Beteiligung an den Kriegsereignissen in Tschetschenien; bereits lange vor Beginn der dortigen Auseinandersetzungen in Tschetschenien im Juni 1994 war der Antragsteller mit seiner Familie von dort weggegangen und hatte Zuflucht in Stawropol, ca. 400 km von Grozny und 250 km von der tschetschenischen Grenze entfernt, gefunden. Der Umzug dorthin soll nach den Angaben des Antragstellers in seiner Asylanhörung im Jahre 1993 stattgefunden haben.

Es findet sich im Vorverfahren auch kein Hinweis auf eine etwaige Obdachlosigkeit des Antragstellers und seiner Familie, wie sie augenscheinlich den Ärzten gegenüber angegeben wurde. Diese Abweichungen dürften jedoch zum einen der Natur des Krankheitsbildes geschuldet sein (Attest v. 22.10.2005: "illusionäre Verkennungen und Halluzinationen" beim Antragsteller); zum anderen liefern die weiteren, schon im Vorverfahren vom Antragsteller erwähnten und von den Ärzten als Traumaauslöser genannten Ereignisse (Erdbeben in Armenien 1988 und Opfer exzessiver Gewaltausübung durch Mafia-Angehörige 2001) hinreichende Erklärungen für das beschriebene Krankheitsbild, sodass das Gesamtvorbringen noch immer plausibel erscheint und daher nicht ohne weiteres als nicht überzeugend zurückgewiesen werden kann. Die Ausführlichkeit und Detailtreue der ärztlichen Stellungnahmen und die Darstellung der Krankheitschronik unter Bezugnahme auf die Auswirkungen auf die Familie des Antragstellers und ihr Alltagsleben belegen dabei eindrücklich, dass es sich hier kaum um einen Fall von Simulantentum handelt. Auch die Dauer der Krankengeschichte hat hier Hinweischarakter darauf, dass die gesundheitlichen Probleme tatsächlich bestehen und ganz augenscheinlich auch ihre Wurzel in den vom Antragsteller erlittenen Traumaerfahrungen haben.

Nachdem nunmehr die Ursachen für die psychischen und physischen Probleme identifiziert sind, kann eine kausale Therapie begonnen werden. Aufgrund der Lage in der Russischen Föderation ist festzustellen, dass der Antragsteller dort die erforderliche engmaschige und langfristige Therapie nicht erhalten könnte. Denn insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller zum einen ohne feste Anmeldung seinen Aufenthalt in Stawropol hatte und bereits nicht unerheblichen Problemen begegnen würde, sich dort oder anderswo registrieren zu lassen, zumal er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keinerlei Staatsangehörigkeitspapiere besessen hat; auch vor diesem Hintergrund wäre sein Status in Russland ungeklärt und ihm würde damit der Zugang zum Gesundheitssystem nicht ohne weiteres gewährt werden. Ausschlaggebend kommt hinzu, dass der Antragsteller als Armenier einer ethnischen und in der russisch dominierten Gesellschaft nicht wohlgelittenen Minderheit angehört und man ihn auf Grund seines Äußeren gewöhnlich als Kaukasier einstufen dürfte, die traditionell dem Generalverdacht unterliegen, den Russen übel gesonnen zu sein. Auch in Anbetracht dieses Umstandes scheint nicht gewährleistet, dass der Antragsteller vollen Zugang zum russischen Gesundheitssystem erhielte.

Dieses System leistet zudem für den russischen Bürger nur ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung kostenfrei; aufwändigere Therapien sind teuer und müssen von den Betroffenen bzw. deren Familien regelmäßig privat (ko)finanziert werden. Nach der vorliegend gegebenen Sachlage ist nicht ersichtlich, wie der mehr oder weniger mittellose und unter den harten Konkurrenzbedingungen in Russland zumindest dort erwerbsunfähige Antragsteller eine langjährige Gesprächstherapie bezahlen sollte.

Ausgehend von dieser Sachlage ist der Tatbestand des § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt. Prognostisch ist nach den Attesten davon auszugehen, dass sich der ohnehin bereits schlechte Gesundheitszustand des Antragstellers weiter - bis hin zum Suizid(versuch) - verschlechtern würde, sollte nicht in eine kausale Therapie eingetreten werden. Da für ihn aller Voraussicht nach eine solche in der Russischen Föderation nicht erreichbar ist, ist von einer erheblichen und konkreten Gesundheitsgefährdung auszugehen, sollte der Antragsteller nach Russland zurückkehren. Mithin war dem Antrag bzgl. der Russischen Föderation stattzugeben.