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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 31.01.2006 - C-503/03 - asyl.net: M8006
https://www.asyl.net/rsdb/M8006
Leitsatz:

Dem Ehegatten eines EU-Bürgers darf nicht die Einreise verweigert werden, nur weil er im Schengen Informations-System (SIS) zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist; vielmehr muss der Mitgliedstaat im Einzelfall prüfen, ob die Einreiseverweigerung den Anforderungen der Richtlinie 64/221 entspricht.

 

Schlagwörter: Unionsbürger, Familienangehörige, Ehegattennachzug, Einreise, Einreiseverweigerung, Visum, Schengener Informationssystem, SIS, Ausschreibung, öffentliche Ordnung, öffentliche Sicherheit
Normen: RL 64/211/EWG Art. 1; RL 64/211/EWG Art. 2; RL 64/211/EWG Art. 3; RL 64/211/EWG Art. 6; SDÜ Art. 5; SDÜ Art. 15; SDÜ Art. 16; SDÜ Art. 92 Abs. 1; SDÜ Art. 96; SDÜ Art. 94
Auszüge:

Dem Ehegatten eines EU-Bürgers darf nicht die Einreise verweigert werden, nur weil er im Schengen Informations-System (SIS) zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist; vielmehr muss der Mitgliedstaat im Einzelfall prüfen, ob die Einreiseverweigerung den Anforderungen der Richtlinie 64/221 entspricht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Da der Gemeinschaftsgesetzgeber die Bedeutung anerkannt hat, die der Gewährleistung des Schutzes des Familienlebens der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten für die Beseitigung der Hindernisse bei der Ausübung der vom EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten zukommt (Urteile vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279, Randnr. 38, und vom 25. Juli 2002 in der Rechtssache C-459/99, MRAX, Slg. 2002, I-6591, Randnr. 53), hat er in den Verordnungen und Richtlinien über die Freizügigkeit die Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Einreise und des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten weitgehend auf die Drittstaatsangehörigen erstreckt, die mit Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten verheiratet sind.

Das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats und ihrer Ehegatten, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten, ist jedoch kein unbedingtes Recht. Unter den Beschränkungen, die gemeinschaftsrechtlich vorgesehen oder zulässig sind, erlaubt Artikel 2 der Richtlinie 64/221 den Mitgliedstaaten, Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten oder ihren Ehegatten, die einem Drittstaat angehören, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit zu verbieten (vgl. in Bezug auf den Ehegatten Urteil MRAX, Randnrn. 61 und 62).

Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat jedoch der Berufung eines Mitgliedstaats auf solche Gründe enge Grenzen gesetzt.

Demnach ist festzustellen, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung im Sinne von Artikel 2 der Richtlinie 64/221 nicht dem des Artikels 96 SDÜ entspricht. Denn nach diesem letztgenannten Artikel kann eine Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im SIS auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung gestützt werden, wenn der Betroffene wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist (Absatz 2 Buchstabe a), oder wenn gegen ihn eine Maßnahme ergangen ist, die auf der Nichtbeachtung des nationalen Rechts über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern beruht (Absatz 3). Im Unterschied zur Regelung der Richtlinie 64/221, wie diese vom Gerichtshof ausgelegt wird, rechtfertigen solche Umstände für sich allein eine Ausschreibung, unabhängig von jeder konkreten Beurteilung der Gefahr, die der Betroffene darstellt.

Nach den Artikeln 5 und 15 SDÜ darf einem Drittausländer, der zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist, grundsätzlich weder die Einreise in den Schengen-Raum gestattet noch ein Sichtvermerk zu diesem Zweck erteilt werden.

Daraus folgt, dass nach dem Mechanismus des SDÜ eine in den Geltungsbereich der Richtlinie 64/221 fallende Person wie der Drittstaatsangehörige, der mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, Gefahr läuft, im Fall einer Ausschreibung zur Einreiseverweigerung den in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutz einzubüßen.

Um dieser Gefahr vorzubeugen haben sich die Vertragsstaaten in der Erklärung vom 18. April 1996 verpflichtet, gemeinschaftsrechtlich begünstigte Personen nur dann zur Einreiseverweigerung auszuschreiben, wenn die gemeinschaftsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

Das bedeutet, dass ein Vertragsstaat die Ausschreibung eines Drittstaatsangehörigen, der mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, erst dann vornehmen kann, wenn er festgestellt hat, dass die Anwesenheit dieser Person im Sinne der Richtlinie 64/221 eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Unter diesen Umständen stellt die Aufnahme eines Drittstaatsangehörigen, der mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, in das SIS zwar ein Indiz für das Vorliegen eines Grundes dar, der es rechtfertigt, ihm die Einreise in den Schengen-Raum zu verweigern. Dieses Indiz muss jedoch durch Informationen erhärtet werden, anhand deren der das SIS konsultierende Mitgliedstaat vor einer Einreiseverweigerung feststellen kann, dass die Anwesenheit des Betroffenen in diesem Raum eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 94 Absatz 3 Buchstabe i SDÜ ausdrücklich die Angabe des Ausschreibungsgrundes gestattet.