OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.03.2006 - 18 B 120/06 [= ASYLMAGAZIN 5/2006 S. 28] - asyl.net: M8094
https://www.asyl.net/rsdb/M8094
Leitsatz:
Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Fiktionswirkung, verspätete Antragstellung, Erlaubnisfiktion, Untertauchen, Ausweisung, Regelausweisung, Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 81 Abs. 4; AufenthG § 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 81 Abs. 3; AufenthG § 85; AufenthG § 53 Nr. 1; AufenthG § 56 Abs. 1; GG Art. 6; EMRK Art. 8; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Die Vorschrift des § 81 Abs. 4 AufenthG, nach welcher bei einem Antrag auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels oder auf Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt des Ablaufs der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels bis zur ausländerbehördlichen Entscheidung als fortbestehend gilt, greift auch ein, wenn der Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels erst nach Ablauf der Geltungsdauer des Titels und damit verspätet gestellt wird; die Verspätung darf aber nur so geringfügig sein, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Ablauf der Geltungsdauer des Titels und dem Antrag gewahrt ist.

Gesetzessystematische Argumente sowie eine Folgenbetrachtung streiten dafür, verspätete Verlängerungsanträge in den Anwendungsbereich des § 81 Abs. 4 AufenthG einzubeziehen, wenn sie in einem inneren Zusammenhang mit dem Ablauf des bisherigen Aufenthaltstitels stehen.

Zunächst scheint § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG für die Möglichkeit zu sprechen, dass die Antragstellung nach Ablauf der Geltungsdauer eines Aufenthaltstitels die Fiktionswirkung auslösen kann. Inwieweit aus dieser Bestimmung ein Anhaltspunkt für die Einbeziehung verspätet gestellter Verlängerungsanträge in den Anwendungsbereich des § 81 Abs. 4 AufenthG zu gewinnen ist, ist indessen zweifelhaft, weil die Vorschrift insgesamt unverständlich ist (so auch Funke-Kaiser, a.a.O., § 81 Rn. 41; Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139)).

Gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist die Ausreisepflicht eines Ausländers unter anderem vollziehbar, wenn dieser nach Ablauf der Geltungsdauer seines Aufenthaltstitels noch nicht die Verlängerung beantragt hat und der Aufenthalt nicht nach § 81 Abs. 3 als erlaubt oder der Aufenthaltstitel nach § 81 Abs. 4 nicht als fortbestehend gilt. Insoweit ist bereits die Bedeutung des Halbsatzes ".... und der Aufenthalt nicht nach § 81 Abs. 3 als erlaubt (...) gilt" unklar; denn bei Eintritt der Erlaubnis- oder Fortbestandsfiktion entfiele bereits die Ausreisepflicht und nicht erst deren Vollziehbarkeit. Damit kann die - nach der Gesetzesbegründung beabsichtigte (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 91) klarstellende Funktion des Halbsatzes lediglich in der - rechtlich allerdings irrigen - Annahme liegen, dass bei einer verspäteten Antragstellung die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nachträglich wieder entfalle. Dem muss aber denknotwendig die Vorstellung zu Grunde liegen, dass eine verspätete Antragstellung die angesprochenen Fiktionswirkungen der Absätze 3 und 4 hervorrufen kann. Denn bei rechtzeitiger Antragstellung wäre bereits die Ausreisepflicht nicht eingetreten; es hätte dafür also keines Verweises auf § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG bedurft. Allerdings bleibt die Vorschrift auch unter dieser Prämisse unverständlich. Denn bei einer verspäteten Antragstellung tritt nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG gerade keine Erlaubnisfiktion ein, sondern es gilt lediglich die Abschiebung als ausgesetzt.

Immerhin dürfte sich allerdings aus § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ableiten lassen, dass der Gesetzgeber die Verlängerung eines Aufenthaltstitels auch nach Ablauf der Geltungsdauer für möglich gehalten hat, so dass die Auffassung, begrifflich sei eine "Verlängerung" strikt ausgeschlossen, wenn der bisher gültige Titel abgelaufen sei (so aber Funke-Kaiser, a.a.O., § 81 Rn. 40; Zeitler, a.a.O.), zu weit geht. Ob sich insoweit auch aus § 31 Abs. 7 VwVfG ein Gegenargument ergibt, kann dahinstehen (so Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (138); vgl. aber BVerwG, Urteil vom 1. März 1983 - 1 C 14.81 -, InfAuslR 1983, 170, zum AuslG 1965; Beschluss vom 19. August 1993 - 1 B 49.93 -, InfAuslR 1994, 98, zum AuslG 1990).

Für eine Einbeziehung geringfügig verspäteter Verlängerungsanträge streitet allerdings nachdrücklich, dass nur bei diesem Verständnis ein Wertungswiderspruch zwischen § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG vermieden wird. Denn in der Bestimmung des § 81 Abs. 3 AufenthG, welche die Fälle der erstmaligen Erteilung eines Aufenthaltstitels an sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltende Ausländer erfasst, führen die Fälle der rechtzeitig und verspätet gestellten Anträge gleichermaßen auf ein fiktives vorläufiges Bleiberecht, wenn auch mit unterschiedlichen Rechtsfolgen. Wollte man demgegenüber aus dem Anwendungsbereich § 81 Abs. 4 AufenthG verspätete Verlängerungsanträge gänzlich ausnehmen, führte das zu dem sachlich nicht gerechtfertigten Ergebnis, dass säumigen Ausländern, die sich unter Umständen schon viele Jahre legal im Bundesgebiet aufgehalten haben, kein vorläufiges Aufenthaltsrecht zuerkannt würde, während säumige Ausländer, die nur über den relativ schwachen Aufenthaltsstatus des visumsfrei eingereisten Touristen verfügten, ein derartiges Recht erhielten (vgl. auch VG Darmstadt, Beschluss vom 29. August 2005 - 5 G 1234/05 (3) -, InfAuslR 2005, 467; Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139)).

Der Anwendungsbereich des § 81 Abs. 4 AufenthG ist allerdings, wie sich auch den auf die Lebenslage des antragstellenden Ausländers abstellenden Regelungen des § 81 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und des § 41 Abs. 3 Satz 1 AufenthV entnehmen lässt, nur auf solche Fälle verspäteter Verlängerungsanträge zu erstrecken, bei denen der Antrag in innerem Zusammenhang und dabei insbesondere in zeitlicher Nähe mit dem Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels gestellt wird. Besteht nämlich ein innerer Zusammenhang des Antrags mit dem Ablauf der Geltungsdauer nicht mehr, kann jener begrifflich schon nicht mehr als Verlängerungsantrag angesehen werden; er stellt sich vielmehr als Antrag auf Neuerteilung eines Titels dar. So verhält es sich etwa nach dem "Untertauchen" eines Ausländers, der sich damit der Anwendung der für ihn geltenden ausländerrechtlichen Regelungen entzieht. Gleiches gilt, wenn die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts durch Verwaltungsakt beendet wird. Letzteres verdeutlicht die - spezielle - Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, der für diese Fälle unter bestimmten Voraussetzungen lediglich hinsichtlich der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit eine Fortbestandsfiktion normiert.

Bei dem geschilderten Verständnis des § 81 Abs. 4 AufenthG werden unangemessen erscheinende Konsequenzen vermieden, die auf der einen Seite eintreten könnten, wenn auch bei langfristiger Säumnis die Fiktionswirkung zuerkannt würde, und auf der anderen Seite, wenn auch ganz kurzfristig säumige Antragsteller die Fiktionswirkung nicht bewirken könnten.

Bezöge man nämlich auch langfristig säumige Antragsteller in den Anwendungsbereich des § 81 Abs. 4 AufenthG ein, wäre diesen die Möglichkeit eröffnet, noch nach Jahren und bei ersichtlich fehlenden Erfolgsaussichten rückwirkend eine lückenlose Fiktion eines Aufenthaltstitels erwirken. Selbst durch den Aufenthalt ohne Aufenthaltstitel über lange Zeit verwirklichte Straftaten nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG könnten allein durch eine Willenserklärung des Täters aus der Welt geschafft werden (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 81 Rn. 40).

Nähme man auf der anderen Seite auch geringfügig säumige Antragsteller aus dem Anwendungsbereich des § 81 Abs. 4 AufenthG aus, würden für diese gravierende Konsequenzen eintreten, die auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers vermieden werden sollten. So müsste ansonsten auch der Aufenthalt eines Antragstellers, der einen Antrag nur um einen Tag zu spät stellt, zunächst jedenfalls grundsätzlich - wenn nicht höherrangiges Recht einer Abschiebung entgegenstünde - beendet werden; außerdem wäre diesem die Möglichkeit genommen, während des Antragsverfahrens weiterhin einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 96).

Dabei erscheint ein anderer Weg, diese unangemessenen Folgen zu vermeiden, nicht gangbar. Dies gilt namentlich für die in Nr. 81.4.2.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise vorgeschlagene Lösung, wonach in Fällen, in denen eine nur geringfügige Pflichtverletzung vorliegt, in entsprechender Anwendung des § 81 Abs. 5 AufenthG eine Fiktionsbescheinigung mit der Rechtsfolge des § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt werden kann. Dieser Lösungsansatz ist untauglich, weil ihm die Annahme zugrunde liegt, dass die materiellen Voraussetzungen für das Eintreten der Fiktionswirkung in solchen Fällen nicht gegeben sind. Wie näherer Erläuterung nicht bedarf, ist es mit der Rechtsordnung unvereinbar, wenn eine Behörde eine Bescheinigung in Kenntnis der Tatsache ausstellt, dass die materiellen Voraussetzungen dafür nicht erfüllt sind.

Die des Weiteren in Betracht zu ziehende Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei kurzfristiger Fristversäumnis scheitert daran, dass es sich bei einem Erfordernis der Antragstellung aus der Position des Inhabers eines Aufenthaltstitels nicht um eine gesetzliche Frist, sondern um eine materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung handelt (so bereits zu § 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG 1990 Senatsbeschluss vom 30. Oktober 1996 - 18 B 661/96 -).

Unanwendbar ist schließlich § 85 AufenthG. Nach dieser Norm können Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bis zu einem Jahr außer Betracht bleiben. Das OVG NRW hat schon zur Vorgängervorschrift des § 97 AuslG 1990 darauf hingewiesen, dass die Norm nur Vorgaben für eine materiell-rechtliche Einzelfallentscheidung der Ausländerbehörde aufstellt und dieser insoweit ein mit dem Eintritt von Fiktionswirkungen nicht zu vereinbarendes Ermessen einräumt (vgl. Beschlüsse vom 1. Juni 1994 - 18 B 438/93 - und vom 6. Juni 1994 - 17 B 1010/94 -; a.A. Hess. VGH, Beschluss vom 4. Dezember 1995 - 12 TG 3096/95 -, InfAuslR 1996, 133).