VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 22.02.2006 - 11 A 2691/04 - asyl.net: M8188
https://www.asyl.net/rsdb/M8188
Leitsatz:

1. Die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen kann sich auch unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung des BVerwG als rechtmäßig erweisen, wenn die Behörde zumindest hilfsweise Ermessen ausgeübt hat und auch im nachfolgenden gerichtlichen Verfahren keine Änderungen zugunsten des Ausländers zu berücksichtigen waren.

2. Bei der Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG muss ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 durch Zugrundelegung der regelmäßigen Frist von 4 Jahren für Ermessensausweisungen berücksichtigt werden.

 

Schlagwörter: Rücknahme, Ausweisung, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Türken, EuGH, Bundesverwaltungsgericht, Ermessensausweisung, Generalprävention, Spezialprävention, Ermessen, Entscheidungszeitpunkt, Altfälle, Widerruf, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Änderung der Rechtslage, Sperrwirkung, Befristung, Wirkungen der Ausweisung
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 14; VwVfG § 49 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3;
Auszüge:

1. Die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen kann sich auch unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung des BVerwG als rechtmäßig erweisen, wenn die Behörde zumindest hilfsweise Ermessen ausgeübt hat und auch im nachfolgenden gerichtlichen Verfahren keine Änderungen zugunsten des Ausländers zu berücksichtigen waren.

2. Bei der Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG muss ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 durch Zugrundelegung der regelmäßigen Frist von 4 Jahren für Ermessensausweisungen berücksichtigt werden.

(Amtliche Leitsätze)

 

Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine erneute Entscheidung über seinen Antrag auf Rücknahme der Bescheide des Beklagten vom 23. November 1999 und vom 2. August 2000. Nach § 48 Abs. 1 VwVfG i. V. m. § 1 Nds.VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Entgegen der Ansicht des Klägers verstößt die Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 23. November 1999 auch nicht gegen Gemeinschaftsrecht. In Ansehung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 29. April 2004 (Rs. C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri) hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 3. August 2004 (- 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315) seine bisherige Rechtsprechung zur Ausweisung der von Art. 6 und 7 ARB 1/80 erfassten türkischen Staatsangehörigen zwar geändert, jedoch erweist sich die Ausweisung des Klägers auch an den geänderten Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts gemessen als rechtmäßig.

In seinem Urteil vom 3. August 2004 (a. a. O.) hat das Bundesverwaltungsgericht u.a. entschieden, dass türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur noch auf der Grundlage einer an Art. 14 ARB 1/80 orientierten ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung, bei der generalpräventive Gesichtspunkte unberücksichtigt bleiben müssen, gem. §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden dürfen. Für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen türkischer Staatsangehöriger, die nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigt sind, ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen.

Diesen Anforderungen genügt der Ausweisungsbescheid des Beklagten vom 23. November 1999.

Ein Anspruch des Klägers auf Neubescheidung seines Antrages auf Aufhebung der Bescheide des Beklagten vom 23. November 1999 und 2. August 2000 ergibt sich schließlich auch nicht aus § 49 Abs. 1 VwVfG (Widerruf eines rechtmäßigen belastenden Verwaltungsaktes) oder aus § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (Wiederaufgreifen des Verfahrens wegen nachträglicher Änderung der Sach- und Rechtslage zu Gunsten des Betroffenen). Die Anwendung dieser Vorschriften ist nämlich durch die spezielle Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, wonach die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung auf Antrag in der Regel befristet werden, ausgeschlossen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11. März 1999 - 13 S 2208/97 - zur gleichlautenden Vorgängervorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG). Im Übrigen stellt ein Wandel in der Rechtsauffassung aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung ohnehin keine Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar, auch nicht bei Entscheidungen von besonders herausragender Bedeutung (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, a. a. O. § 51, Rdnr. 106 ff. m. w. N.).

Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass über seinen Antrag auf Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung und Abschiebungen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts entschieden wird (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Bei der nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung über die Befristung wird der Beklagte vor allem in Rechnung stellen müssen, dass im Hinblick auf das Aufenthaltsrecht des Klägers nach dem ARB 1/80 dessen Ausweisung nur als Ermessensentscheidung rechtmäßig war, so dass von einer regelmäßigen Frist von vier Jahren und nicht von zwölf Jahren wie bei Ist-Ausweisungen auszugehen wäre (vgl. auch Ziffer 11.1.5.1 der Vorl. Nds. VV-AufenthG), die je nach den Umständen des Einzelfalls verkürzt oder verlängert werden kann. Das Gemeinschaftsrecht muss insoweit trotz der Unanfechtbarkeit der Ausweisungsverfügung angemessen beachtet werden (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004 - Rs C-453/00 - InfAuslR2004, 139 f.)