VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 27.03.2006 - 9 UE 705/05.A - asyl.net: M8209
https://www.asyl.net/rsdb/M8209
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eritreische Staatsangehörige wegen einfacher exilpolitischer Betätigung für EDP.

 

Schlagwörter: Eritrea, EDP, Eritrean Democratic Party, Mitglieder, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, politische Entwicklung, Oppositionelle, Gefälligkeitsbescheinigungen, Internet
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für eritreische Staatsangehörige wegen einfacher exilpolitischer Betätigung für EDP.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung der Klägerin ist auch begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Verpflichtungsklage zu Unrecht abgewiesen, soweit die Klägerin die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, des früheren § 51 Abs. 1 AuslG, begehrt.

Der Klägerin droht bereits wegen ihrer exilpolitischen Betätigung als einfaches Mitglied der EDP, das im Rahmen der Parteiarbeit aktiv ist, im Falle der Rückkehr nach Eritrea auch in Anwendung des strengeren Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG.

Der Senat ist davon überzeugt, dass dem eritreischen Staat einfache Mitglied der EDP, die sich - wenn auch nur in untergeordneter Form - an der Parteiarbeit beteiligen, bekannt sind. Aus der geschichtlichen Entwicklung der den eritreischen Staat derzeit allein tragenden Partei (EPLF/PFDJ) erschließt sich dem Senat, dass Eritrea über ein auch im Ausland außerordentlich gut ausgebildetes und funktionierendes Spitzelsystem verfügt, das auch die untergeordneten Aktivitäten einfacher Mitglieder der EDP registriert.

Einfache Mitglieder der EDP, die sich - wenn auch nur in untergeordneter Form - an der Parteiarbeit beteiligen, haben im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu befürchten.

Es ist davon auszugehen, dass jedwede Aktivität von Mitgliedern der EDP für die Partei von der eritreischen Regierung als staatsschädigend eingestuft wird (Institut für Afrika-Kunde an VG Kassel vom 30. April 2004; Auswärtiges Amt an VG Kassel vom 18. Mai 2004 und an Bayerischen VGH vom 2. November 2005). Auch für niedrig profilierte Mitglieder, deren Aktivitäten sich z. B. in der regelmäßigen Teilnahme an Parteitreffen und einfacher, regional begrenzter Werbung für die Partei erschöpfen, besteht im Falle der Rückkehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen. Gerade wegen der großen Bedrohung, die die EDP für den Erhalt der Herrschaft der jetzigen PFDJ-Führung bedeutet, ist regelmäßig anzunehmen, dass jedwede Aktivität innerhalb der Parteiarbeit (Auswärtiges Amt an VG Kassel vom 18. Mai 2004) und auch bereits die einfache Mitgliedschaft (Schröder an VG Kassel vom 4. Juni 2004; Auswärtiges Amt an VG Magdeburg vom 30. Juni 2004), soweit sie bekannt wird (Institut für Afrika-Kunde an Bayerischen VGH vom 2. November 2005), bei einer Rückkehr sanktioniert wird (vgl. auch Bundesnachrichtendienst an VG München vom 11. April 2005). Die Regierung muss nämlich befürchten, dass auch ein Teil der jetzigen PFDJ-Mitglieder zur Reformbewegung überläuft, die aus den eigenen Reihen entstanden ist. Dies wird als noch stärkere Bedrohung wahrgenommen als die Zugehörigkeit zu einer anderen Oppositionspartei (Schröder an VG Magdeburg vom 26. Februar 2003; Institut für Afrika-Kunde an VG Magdeburg vom 11. Juni 2003; amnesty international an VG Magdeburg vom 7. November 2003).

Soweit Präzedenzfälle, die eine Verfolgung belegen könnten, nicht vorliegen, spricht dies - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - nicht gegen eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefährdung von einfachen Mitgliedern der EDP, die sich innerhalb der Partei - wenn auch nur in einfacher Weise - aktiv betätigen. Präzedenzfälle dürften nämlich deshalb fehlen, weil die EDP in der Diaspora gegründet wurde und es bisher nicht zur Rückreise von Personen gekommen ist, die als Mitglieder bekannt waren (Institut für Afrika-Kunde an Bayerischen VGH vom 2. November 2005). Im Übrigen ist die Tatsache, dass Präzedenzfälle nicht bekannt sind, auch darauf zurückzuführen, dass in Eritrea Festnahmen häufig ohne Anwesenheit von Zeugen stattfinden und die Verhafteten danach an unbekannte Orte verbracht werden, Angehörige keine Auskunft über den Verbleib erhalten und keine (öffentliche) Anklageerhebung erfolgt (Bundesnachrichtendienst an VG München vom 11. April 2005).

Gegen eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefährdung von Mitgliedern der EDP, die sich lediglich in untergeordneter Weise für die Partei betätigen, spricht auch nicht die neuere Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 2. November 2005. In den ersten beiden Absätzen dieser Auskunft bestätigt das Auswärtige Amt sein bisherige Einschätzung, dass (sic.: ohne Einschränkungen) die eritreischen Behörden aktive einfache Mitglieder der EPLF-DP bei Bekanntwerden registrieren und jedwede Aktivität im Rahmen der Parteiarbeit und -zugehörigkeit zur EPLF (gemeint ist ganz offensichtlich die EPLF-DP) von dem eritreischen Staat als staatsschädigend eingestuft wird. Wenn es sodann im dritten Absatz dieser Auskunft heißt, dass es, um von Seiten des eritreischen Staates als regimekritischer Gegner eingestuft zu werden und sich somit möglichen Repressalien auszusetzen, mehr als einer Mitgliedschaft in der EPLF-DP bedürfe und in der Regel eine länger andauernde Tätigkeit mit regelmäßigen Veröffentlichungen stattgefunden haben müsse, steht dies im Widerspruch zu den Feststellungen in den ersten beiden Absätzen. Denn es kann nicht ernstlich davon ausgegangen werden, dass die vom eritreischen Staat registrierte und als staatsschädigend eingestufte Arbeit eines einfachen Mitglieds in der EDP nur dann verfolgt wird, wenn das Mitglied "regelmäßig veröffentlicht" hat. Dies hieße, dass der eritreische Staat unterhalb der regelmäßigen Veröffentlichungen eine registrierte und als staatsschädigend angesehene Betätigung, ungeahndet lässt. Unter Berücksichtigung des oben dargestellten Selbstverständnisses der EPLF/PFDJ erscheint eine derartige Nichtreaktion auf staatsschädigendes Verhalten undenkbar. Aus diesem Grund interpretiert der Senat die entsprechende Feststellung in der Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 2. November 2005 dahingehend, dass sich ein einfaches Mitglied der EDP staatlichen Repressalien aussetzt, wenn es öffentlich in Erscheinung tritt. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass deren Ergebnis sich im Wesentlichen mit der Einschätzung der Situation in früheren Auskünften des Auswärtigen Amtes deckt. Eine nunmehr anders lautende Einschätzung durch das Auswärtige Amt wäre nur dann nachvollziehbar, wenn Gründe für eine veränderte Gefährdungssituation angeführt würden. Derartige Gründe enthält die Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 2. November 2005 aber nicht.

Bei den auch einfachen aktiven Mitgliedern der EDP drohenden Sanktionen und Repressalien handelt es sich insbesondere um Verhaftungen und länger andauernde Inhaftierungen (vgl. dazu Auswärtiges Amt an VG Magdeburg vom 5. August 2003; Bundesnachrichtendienst an VG München vom 11. April 2005; amnesty international an VG München vom 23. März 2005), die politischen Charakter haben.

Da die drohenden Repressalien an die Mitgliedschaft in einer politischen Partei und die Aktivitäten für diese Partei anknüpfen, ist deren politischer Charakter gegeben.

Der Senat ist auch davon überzeugt, dass die Klägerin zu dem Kreis der verfolgungsgefährdeten Personen im oben umschrieben Sinne zählt, weil sie einfaches Mitglied der in der Bundesrepublik exilpolitisch tätigen EDP ist und sich für diese Partei schon längere Zeit - wenn auch nur untergeordnet - betätigt.

Die Klägerin hat erstmals mit Schriftsatz vom 19. Juli 2003 im erstinstanzlichen Verfahren darauf hingewiesen, dass sie in der Bundesrepublik Mitglied der EPLF-DP sei. Im Termin zur mündlichen Verhandlung legte sie eine Bescheinigung der EPLF-DP vom 21. August 2003 vor, aus welcher sich ergibt, dass sie seit dem 1. März 2003 aktives Mitglied der Partei sei.

Der Senat ist der Überzeugung, dass die Klägerin die in den Bescheinigungen aufgeführten Aktivitäten für die EDP entfaltet hat und es sich dabei nicht etwa nur um Gefälligkeitsbescheinigungen handelt. Auf einen entsprechenden Vorhalt des Vertreters des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Zeuge ... ausgeführt, dass aus Gründen der Vereinfachung für derartige Bescheinigungen zwar ein einheitliches Formular verwendet werde, in welches lediglich die individuellen Daten des Mitglieds übernommen würden. In die Bescheinigungen würden aber nur Veranstaltungen eingetragen, an denen die betreffende Person auch tatsächlich teilgenommen habe. Dies werde dadurch sichergestellt, dass während der Veranstaltungen Anwesenheitslisten geführt würden, in die sich die Teilnehmer eintragen müssten. Die Anwesenheitslisten befänden sich beim Vorsitzenden der jeweiligen Gruppierung, so dass dieser stets erkennen könne, an welcher Veranstaltung der Betreffende teilgenommen habe.

Ohne dass dem entscheidungserhebliche Bedeutung beizumessen wäre, weist der Senat darauf hin, dass im Falle der Klägerin die Verfolgungsgefahr zusätzlich dadurch gesteigert wird, dass über ihre Teilnahme an Veranstaltungen der EDP bzw. an Veranstaltungen von Organisationen, an denen die EDP beteiligt ist, in Form von Fotografien im Internat berichtet wurde.