VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 04.05.2006 - 3 A 3622/04 - asyl.net: M8240
https://www.asyl.net/rsdb/M8240
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak, aber auch keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für Yeziden.

 

Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Irak, Jesiden, Vorverfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, religiös motivierte Verfolgung, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, zwingende Gründe
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak, aber auch keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für Yeziden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist mit dem Hauptantrag begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten.

Als Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid kommt § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, auf dessen aktuelle Fassung abzustellen ist (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) in Betracht.

Bei der Prüfung, ob die Anerkennungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, sind generell dieselben Grundsätze über die Verfolgungswahrscheinlichkeit anzuwenden wie bei der Erstentscheidung (Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 73 Rn. 8; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.02.1986 - A 13 S 77/85 -, EZAR 214 Nr. 1). Hat der Ausländer eine Verfolgung erlitten oder musste er sie als ihm bevorstehend befürchten, so können die Anerkennungsvoraussetzungen nur dann als weggefallen angesehen werden, wenn der Betroffene insoweit vor künftiger Verfolgung sicher ist, d.h. eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen wegen zwischenzeitlicher Veränderungen im Verfolgerstaat mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

Zwar scheiden nach der grundlegenden Änderung der politischen Situation im Irak das illegale Verlassen des Landes und die Asylantragstellung in Deutschland damit als Ansatz für eine (wiederholende) politische Verfolgung aus.

Schon das Bundesamt hat im Bescheid vom 12. März 1996 nicht auf den Nachfluchtgrund der Asylantragstellung abgestellt. Die Anerkennung des Klägers zu 1) als Asylberechtigter erfolgte vielmehr aufgrund der Feststellung einer individuellen Vorverfolgung, an deren Vorliegen das Bundesamt seinerzeit ersichtlich keinerlei Zweifel hatte.

Unter Berücksichtigung des danach wegen der Vorverfolgung grundsätzlich anzuwendenden herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs kann eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen bei dem Kläger zu 1) nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Zwar hat er nach dem Zusammenbruch des Regimes von Saddam Hussein nicht mehr mit asylerheblichen Nachstellungen von Kräften der Baath-Partei zu rechnen. Nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können aber andere mögliche Verfolgungshandlungen, die an seine Religionszugehörigkeit anknüpfen würden und für deren Betrachtung wegen der insoweit bestehenden Verknüpfung mit dem früheren Verfolgungsschicksal gleichfalls der herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Die von ihm erlebten Repressalien, die für ihn den Asylanspruch begründeten, erfolgten zumindest auch in Anknüpfung an seine Eigenschaft als Yezide.

Zwar liegen die tatsächlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung der Yeziden im Irak weiterhin nicht vor. Die Verfolgungsschläge, von denen Angehörige der Religionsgemeinschaft der Yeziden im Irak durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG getroffen werden, fallen weiterhin nicht feststellbar so dicht und eng gestreut, dass für jedes Gruppenmitglied die Furcht begründet ist, in eigener Person Opfer der Übergriffe zu werden (Urteile der erkennenden Kammer vom 16. November 2005 - 3 A 2523/05 - und vom 22. März 2006 - 3 A 4299/04 sowie 3 A 4434/04 -). Andererseits ergibt sich aus den in den genannten Urteilen verwerteten und anderen Erkenntnismitteln eine Vielzahl von Übergriffen (Bedrohungen, Einschüchterungen, Anschläge bis hin zu Morden) auf Yeziden im Irak insbesondere durch Moslems, bei allgemein zunehmender Fanatisierung der religionsbezogenen Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen im Irak. Diese lassen die Besorgnis der Yeziden als verständlich erscheinen, "dass die unstreitig vorgekommenen Gewalttaten einmal mehr erste Anzeichen einer alle Yeziden unterschiedslos treffenden Verfolgung sind" (Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme vom 12. September 2005 an VG Osnabrück).

Der dargelegten Bedrohung unterläge der aus dem Zentralirak stammende Kläger zu 1) auch landesweit; er könnte insbesondere nicht auf den kurdisch verwalteten Nordirak verwiesen werden. Auch wenn die Übergriffe auf Yeziden dort insgesamt seltener sein mögen, genügt dieses Gebiet bei Zugrundelegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes nicht den Anforderungen, die an eine den Schutzanspruch ausschließende inländische Fluchtalternative zu stellen sind. Er verfügt nach seinen Bekundungen, von denen in Ermangelung anderer Anhaltspunkte ausgegangen wird, derzeit weder über familiäre noch sonstige soziale Bindungen in den Nordirak. Derartige Kontakte sind aber im Nordirak gegenwärtig und auf absehbare Zeit Voraussetzung für den Aufbau einer das Überleben auf Dauer sichernden Existenzgrundlage (vgl. Savelsberg/Hajo, Stellungnahmen vom 2. November 2004 an VG Regensburg und vom 3. November 2004 an VG Köln; Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme vom 14. Februar 2005 an VG Köln, amnesty international, Gutachten vom 16. Oktober 2005 an VG Köln).