VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 10.05.2006 - 4 A 225/03 - asyl.net: M8261
https://www.asyl.net/rsdb/M8261
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahr der Sippenhaft für Sohn bzw. Bruder von Funktionären der DVPA-Regierung in Afghanistan; Vorverfolgung durch drohende Verfolgung der Taliban.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Kommunisten, DVPA, Taliban, Gebietsgewalt, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgungszusammenhang, Vorverfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Sippenhaft, Kinder
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahr der Sippenhaft für Sohn bzw. Bruder von Funktionären der DVPA-Regierung in Afghanistan; Vorverfolgung durch drohende Verfolgung der Taliban.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950).

Der Kläger stammt aus einer politisch orientierten Familie, deren Mitglieder unter der früheren kommunistischen Regierung in Afghanistan z. T. Leitungsaufgaben innehatten.

Hiernach befand sich die Familie des Klägers im Hinblick auf die politischen und beruflichen Aktivitäten des Vaters unter dem früheren kommunistischen Regime im Zeitpunkt der Ausreise in unmittelbar drohender Gefahr politischer Verfolgung durch die Taliban-Milizen. Es kann dahinstehen, ob diese seinerzeit bereits eine Position erlangt hatten, die es rechtfertigt, von einer Ausübung staatlicher Gewalt auszugehen (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.2.2001, a.a.O.; BVerfG, Beschl. v. 10.8.2000, a.a.O.). Jedenfalls besaßen sie einen Organisationsgrad (vgl. zu diesem Erfordernis VG Sigmaringen, Urteil vom 18.7.2005 - A 2 K 11626/03 -, juris m.w.N.), der sie zu politischer Verfolgung als "nicht-staatliche Akteure" im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c) AufenthG befähigte.

Der Kläger ist im Fall seiner Rückkehr in sein Heimatland dort vor Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG nicht hinreichend sicher.

Allerdings findet in Afghanistan derzeit keine Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 lit. a) oder b) AufenthG durch den afghanischen Staat bzw. durch Parteien oder Organisationen statt, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen.

Machtgebilde, die eine übergreifende Friedensordnung errichtet haben und daher im Gegenzug zu einer derartigen Verfolgung fähig sind, bestehen in Afghanistan derzeit nicht.

Es besteht jedoch Anlass zu der Annahme, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan der Gefahr einer Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c) AufenthG unterliegen würde.

Die Verfolgung ehemaliger Kommunisten durch Mitglieder der Regierung Karzais unter Mithilfe von Polizei- und Sicherheitskräften ist in dem im Aufbau befindlichen Afghanistan, in dem staatliche Verfolgung nach dem oben Gesagten derzeit nicht stattfindet, als politische Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" zu qualifizieren. Der Kläger ist vor einer solchen Verfolgung im Hinblick auf die Funktion seines Vaters und seines Bruders unter dem früheren kommunistischen Regime nicht hinreichend sicher. Der Umstand, dass die Tätigkeit des Vaters als Abteilungsleiter bei der Kriminalpolizei in Kabul bereits in der Vergangenheit Verfolgungshandlungen nach sich gezogen hat, lässt es nahe liegend erscheinen, dass die Familie nach wie vor als "kommunistisch orientiert" bekannt ist. Der Kläger unterläge bei einer Rückkehr nach Afghanistan der Gefahr der Sippenhaft, die dort als Mittel (auch) der politischen Auseinandersetzung angesehen wird und die nächste Generation einschließt, so dass auch Personen durch sie betroffen sein können, die während der Ausübung von Aktivitäten ihrer Eltern für die frühere kommunistische Regierung noch Kinder waren (Danesch, a.a.O. Seite 40). Obwohl eine Verfolgung nicht durch Angehörige der Taliban, sondern durch andere Personen oder Gruppen zu befürchten ist, ist wegen desselben Anknüpfungspunktes - nämlich die Nähe der Familie zur früheren kommunistischen Regierung - die erforderliche Verknüpfung zu der erlittenen Vorverfolgung zu bejahen (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97).