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VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 12.04.2006 - 14 K 700/04.A - asyl.net: M8275
https://www.asyl.net/rsdb/M8275
Leitsatz:

Keine staatliche oder quasistaatliche Herrschaftsmacht in Afghanistan; extreme Gefahrenlage für Rückkehrer, die nicht in den Familien- und Stammesverband aufgenommen werden oder bei denen besondere Umstände den Überlebenskampf erschweren.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Gebietsgewalt, Kabul, Situation bei Rückkehr, Versorgungslage, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, medizinische Versorgung, alleinstehende Personen, soziale Bindungen
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine staatliche oder quasistaatliche Herrschaftsmacht in Afghanistan; extreme Gefahrenlage für Rückkehrer, die nicht in den Familien- und Stammesverband aufgenommen werden oder bei denen besondere Umstände den Überlebenskampf erschweren.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Der Kläger hat wegen Fehlens einer staatlichen Verfolgung keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG. Afghanistan hat zur Zeit noch keine hinreichend stabilisierte Herrschaftsgewalt.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.

Auf Grund der Folgen des jahrzehntelangen Bürgerkrieges und des Fehlens einer Staatsgewalt müssen Afghanen im Rückkehrfall aufgrund der allgemein schlechten wirtschaftlichen und sozialen Situation mit großen Schwierigkeiten rechnen, jedoch nicht alle Rückkehrer bereits generell mit einer gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevanten Gefährdung. Die Gefahren für die dortige Bevölkerung haben sich hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen nicht generell in einem Maße verdichtet, dass für die gesamte Bevölkerung von einer extremen Gefahrenlage auszugehen wäre. Die Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit ist nicht für alle derart hoch, dass die Frage des Abschiebungsschutzes in Abweichung von §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60 a Abs. 1 AufenthG verfassungskonform nur nach Satz 1 der Vorschrift zu bewältigen wäre.

Durch die traditionell stark ausgeprägte Einbindung des Einzelnen in die Familien- und Stammesstrukturen, die in Afghanistan quasi das soziale Netz darstellen (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 23.03.2003, 22. April 2004 und 21.06.2005) sowie den Einsatz von ausländischen Hilfsorganisationen konnte die Versorgung mit dem zum Überleben Notwendigsten bisher selbst in den Wintermonaten einigermaßen gewährleistet werden.

Dies gilt auch für Rückkehrer, die in bestehende Familien- oder Stammesstrukturen und ein ihnen bekanntes Umfeld zurückkehren können. Auch bei ihnen kann nicht ohne weiteres von einer derartig extremen Gefährdungslage ausgegangen werden, wenn sie die Hilfe des Stammes oder ihrer Familie erfahren, bis sie selbst wieder Fuß gefasst haben. Wenn starke Familien- und Stammesbindungen weiter bestehen, wird das zum Leben notwendige Existenzminimum gewährleistet sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.06.2005 für die bisher freiwillig zurückkehrenden Afghanen).

Das erfordert aber für eine zurückkehrende Person vor allem die Bereitschaft der Familie und des Stammes, den Rückkehrer wieder in ihre Strukturen aufzunehmen und nicht nur für kurze Zeit Obdach und Ernährung zu gewährleisten. Ist dies aber nicht der Fall, können diese Rückkehrer in eine derartig extreme Gefahrenlage geraten, dass § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Handhabung einer Abschiebung entgegensteht; denn die ansonsten bestehende existenzgefährdende Lage der Rückkehrer ohne Familien- und Stammesbindungen kann nicht durch Hilfsorganisationen aufgefangen werden.

Aber nicht nur der familiäre und stammesmäßige Zusammenhalt ist für das Überleben der Rückkehrer entscheidend, sondern auch das gesamte Geflecht der sozialen Beziehungen und das Umfeld des Rückkehrers. Dies belegen nicht zuletzt auch die Lageberichte des Auswärtigen Amtes (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 23.03.1999, 22.04.2004, 21.06.2005), wonach freiwillige Rückkehrer in den meisten Fällen bei Familienangehörigen oder in ihren alten Unterbringung unterkommen, hierbei aber die knappen Ressourcen (Wohnung und Versorgung) noch weiter strapazieren (Lagebericht 21.06.2005 S. 28 f.). Die Sicherheitslage wird vom Auswärtigen Amt zudem nur für frühere Bewohner Kabuls in Teilen als ausreichend sicher angesehen (Lagebericht 21.06.2005 S. 12). Rückkehrer außerhalb des Familienverbandes stoßen damit nicht nur auf größere, sondern existenzielle Schwierigkeiten stoßen, wenn ihnen - wie das Auswärtige Amt sagt - das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk, sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen (Lagebericht vom 21.06.2005 S. 27). Die Zusammenschau dieser Aussagen kann nur bedeuten, dass neben der Bereitschaft des Familien- oder Stammesverbandes zur Unterstützung des Rückkehrers auch die konkreten örtlichen Verhältnisse und die Kenntnisse dieser örtlichen Verhältnisse für das Überleben bei einer Rückkehr entscheidend sind. Neben der Kenntnis der örtlichen Überlebensstrategien gehört zu den maßgeblichen örtlichen Verhältnisse aber für viele Rückkehrer auch das Einfügen in die politischen und religiösen örtlichen Verhältnisse. Da - wie oben dargestellt - die religiösen und politischen Spannungen fortdauern, kann die politische oder religiöse Gegnerschaft zu den herrschenden Kreisen der Heimatregion, selbst wenn diese Gegnerschaft zur Zeit nicht zu aktiven Verfolgungshandlungen führt, den Überlebenskampf erheblich erschweren (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.06.2005 (S.16) zu Repressionen (vermeintlich) politisch Andersdenkender; Glatzer, Auskunft vom 03.07.2003 an VG Bayreuth zur Benachteiligung früherer Kommunisten bei der Versorgung).