VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A - asyl.net: M8314
https://www.asyl.net/rsdb/M8314
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Gruppenverfolgung, 2. Tschetschenienkrieg, Folter, Filtrationslager, extralegale Hinrichtungen, Brandstiftung, Verfolgungsdichte, Situation bei Rückkehr, nichtstaatliche Verfolgung, Rebellen, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Registrierung, Freizügigkeit, Existenzminimum, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Krasnodar, Stawropol, Moskau, St. Petersburg, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Männer, Wohnungsdurchsuchung, Razzien, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Pass, Verlängerung, Registrierung, Willkür, Inlandspass
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, der in Ablösung des vormals anzuwendenden § 51 Abs. 1 AuslG gemäß Art. 15 Abs. 3 des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist und dessen Voraussetzungen in dem hier maßgeblichen Umfang mit denen des Art. 16 a GG übereinstimmen (vgl. BVerwG, Urteile vom 26.10.1993 - 9 C 52.92 u. a. - EZAR 203 Nr. 2 = NVwZ 1994, 500; und vom 18.01.1995 - 9 C 48.92 - EZAR 230 Nr. 4 = NVwZ 1994, 497 zu der Vorläufervorschrift des § 51 Abs. 1 AuslG).

Die Tatsache, dass der Kläger tschetschenischer Volkszugehöriger ist und diese Volksgruppe in der Russischen Föderation teils mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, rechtfertigt allein keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Der Senat geht allerdings davon aus, dass tschetschenische Volkszugehörige seit Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges im September 1999 in Tschetschenien einer gegen tschetschenische Volkszugehörige als Gruppe gerichteten politischen Verfolgung ausgesetzt sind.

Es kann dahinstehen, ob dem Kläger allein hinsichtlich seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit im Zeitpunkt der Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand, da er zumindest heute bei Rückkehr in die Russische Föderation dort mit Ausnahme der weiter unten genannten Regionen sowie Tschetscheniens selbst hinreichend sicher vor erneuten asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen wäre und er dort auch nicht anderen existentiellen Bedrohungen ausgesetzt wäre, die so am Herkunftsort nicht bestünden, wenn man von der noch darzulegenden Unzumutbarkeit einer auch nur vorübergehenden Rückkehr nach Tschetschenien zwecks Passbeschaffung absieht. Dabei geht der Senat in Übereinstimmung mit dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass dem Kläger erst recht eine dauernde Aufenthaltsnahme in der Tschetschenischen Republik selbst nicht zugemutet werden kann, da sich dort die Sicherheitslage seit Mai 2004 nach einem vorübergehenden leichten Abflauen der Auseinandersetzungen wieder erheblich verschlechtert hat und die menschenrechtliche Lage in Tschetschenien äußerst besorgniserregend bleibt.

Nach Auffassung des Senats ist damit die von der Rechtsprechung geforderte Verfolgungsdichte gegeben, da es sich nach der zitierten Auskunftslage insbesondere auch des Auswärtigen Amtes nicht nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe handelt, sondern die tschetschenische Zivilbevölkerung in Tschetschenien aktuell der Gefahr eigener Betroffenheit hinsichtlich der geschilderten Übergriffe ausgesetzt ist.

Der Kläger kann aber nicht auf die gesamte Russische Föderation - mit Ausnahme Tschetscheniens - als inländische Fluchtalternative verwiesen werden. In Übereinstimmung mit dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Urteil vom 31. Januar 2005 - B 02.31597 -) geht auch der Senat zunächst davon aus, dass die Russische Föderation hinsichtlich der Frage, ob einzelne Landesteile als inländische Fluchtalternative in Betracht kommen, einer differenzierten Betrachtung unterzogen werden muss, wobei den Schwierigkeiten, sich an einem Ort des vorübergehenden Aufenthalts registrieren zu lassen, besondere Bedeutung zukommt.

Dabei verkennt der Senat nicht, dass Tschetschenen grundsätzlich wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthaltsrechts in der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien zusteht. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird in der Praxis an vielen Orten der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit antikaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen.

Unter Berücksichtigung der vorstehend dargestellten allgemeinen Situation dieser Erkenntnislage geht der Senat zunächst in Übereinstimmung mit dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass die Regionen Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Krasnodar und Stawropol als Regionen einer inländischen Fluchtalternative ausscheiden.

Auch die russische Hauptstadt Moskau sowie St. Petersburg kommen als inländische Fluchtalternative nicht ohne weiteres in Betracht, da nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln dort eine Registrierung nur unter sehr erschwerten Bedingungen möglich ist.

Ob die soeben genannten Regionen mit restriktiven Zuzugsbeschränkungen sowie die weiteren Regionen der Russischen Föderation, die nicht bereits als Orte einer inländischen Fluchtalternative ausgeschlossen worden sind, an denen jedoch nach den oben gemachten Ausführungen ebenfalls mit Beschränkungen der Registrierung zu rechnen ist, als inländische Fluchtalternative in Betracht kommen, hängt jeweils von der individuellen Durchetzungsfähigkeit und den Möglichkeiten des Schutzsuchenden sowie seiner persönlichen Beziehungen und Anknüpfungspunkte außerhalb der tschetschenischen Republik ab. Letztendlich ist es eine Entscheidung des Einzelfalls, ob aufgrund der vorhandenen Beziehungen des Schutzsuchenden zu außerhalb von Tschetschenien aber innerhalb der Russischen Föderation lebenden Personen und/oder ob aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten davon ausgegangen werden kann, dass er trotz zu erwartender Schwierigkeiten auch in den übrigen Landesteilen der Russischen Föderation etwa bei der Registrierung sich erfolgreich hiergegen wird zur Wehr setzen können und sich am Ort der inländischen Fluchtalternative eine zumutbare Existenz wird aufbauen können. Dies kann nicht gleichermaßen für allein stehende Männer, Familien mit kleinen Kindern, allein stehende Frauen und ältere Personen beurteilt werden.

Gesonderter, sorgfältiger Betrachtung bedarf namentlich die Frage, ob bereits die Schwierigkeiten und Verzögerungen, die ein Angehöriger dieses Volkes weiterhin in Kauf nehmen muss, um in den hierfür in Betracht kommenden Landesteilen einen legalen Aufenthalt zu begründen, ihn in eine "ausweglose Lage" bringen kann. Ob das z. B. bei Kindern, bei Alten, Kranken oder behinderten Personen bzw. bei solchen Menschen der Fall ist, die aus sonstigen Gründen (z. B. weil sie für andere sorgen müssen und deshalb keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können) auch nur für eine beschränkte Zeit nicht ohne Leistung der staatlichen Daseinsfürsorge in menschwürdiger Weise existieren könnten, kann nicht mit Allgemeingültigkeit für alle Fälle entschieden werden (vgl. Bay. VGH, Urteil vom 31.01.2005 - 11 B 02.31597).

Grundsätzlich kann für den im Zeitpunkt der Entscheidung 35-jährigen Kläger davon ausgegangen werden, dass er sich als allein stehender Mann eine Existenz wird aufbauen können und sich gegen eventuell stattfindende Benachteiligungen wird zur Wehr setzen können. Hierbei verkennt der Senat nicht, dass gerade junge Männer im Alter des Klägers leicht in das Fadenkreuz von Ermittlungen der russischen Sicherheitskräfte geraten können und sich Überprüfungen im Rahmen der Terrorismusabwehr stellen müssen. Trotz einzelner Übergriffe ist jedoch nicht belegt, dass Tschetschenen in der gesamten Russischen Föderation mit asylrelevanten Übergriffen zu rechnen haben, insbesondere kann dem russischen Staat nicht abgesprochen werden, im Rahmen der Terrorismusabwehr auch großflächige Ermittlungen durchzuführen. Kontrollen als solche, wie z. B. Wohnungsdurchsuchungen oder Razzien, seien sie rechtmäßig oder seien sie illegal, erreichen nicht notwendige die erforderliche Eingriffsintensität. Maßnahmen, die nicht mit einer Gefahr für Leib und Leben oder Beschränkungen der persönlichen Freiheit verbunden sind, bilden nur dann einen Verfolgungstatbestand, wenn sie nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des jeweiligen Landes aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 - in Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG Nr. 64, S. 17; OVG NRW, Urteil vom 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A -).

Die inländische Fluchtalternative wäre für den Kläger auch erreichbar.

Zunächst besteht bei der Einreise, die im Falle der Abschiebung üblicherweise über den Flughafen Moskau erfolgen wird, nicht die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung allein wegen der tschetschenischen Volkszugehörigkeit. Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen allein das Stellen eines Asylantrags im Ausland bei der Rückkehr russischer Staatsangehöriger zu staatlichen Verfolgungsmaßnahmen geführt hat. Ebenso liegen dem Auswärtigen Amt keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, ob tschetschenische Volkszugehörige nach ihrer Rückführung nach Russland besonderen Repressionen ausgesetzt waren

Der Kläger müsste auch eine zwangsweise Verbringung nach Tschetschenien vom Ort der inländischen Fluchtalternative aus nicht befürchten.

Allerdings wäre der Kläger nach derzeit in der Russischen Föderation geltender Rechtslage gezwungen, sich vor Ansiedlung am Ort der inländischen Fluchtaltemative vorübergehend nach Tschetschenien zu begeben, um dort einen gültigen Inlandpass zu beantragen. Dieser ist Voraussetzung für eine Registrierung am Ort der inländischen Fluchtaltemative (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 15. Februar 2006) und auch im Übrigen für einen zumutbaren Aufenthalt dort, da Tschetschenen ohne gültige Ausweispapiere verstärkt damit rechnen müssen anlässlich stattfindender Polizeikontrollen verhaftet und ggf. in asylrelevanter Weise behandelt zu werden. Diese Tatsache führt im Ergebnis dazu , dass ihm eine Rückkehr in die Russische Föderation insgesamt nicht zugemutet werden kann, wobei der Senat davon ausgeht, dass der Kläger über keinen gültigen Inlandspass mehr verfügt. Im Jahr seiner Ausreise wird er allenfalls über einen alten Sowjetischen Inlandspass verfügt haben, dessen Gültigkeit unabhängig davon, ob dieser Pass von dem Schlepper in sein Heimatland zurückgebracht worden ist oder nicht, mittlerweile seine Gültigkeit verloren hat.

Dem Kläger kann nicht zugemutet werden, auch nur vorübergehend zur Ausstellung eines Inlandspasses nach Tschetschenien zurückzukehren, da nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden kann, dass er dort keinen asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein wird.

Aufgrund der oben näher beschriebenen, weiterhin besorgniserregenden Sicherheitslage in Tschetschenien kann dem Kläger jedoch nicht zugemutet werden, auch nur vorübergehend nach Tschetschenien zurückzukehren.