OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 03.11.2005 - 1 LB 259/01 - asyl.net: M8330
https://www.asyl.net/rsdb/M8330
Leitsatz:

Tschetschenischen Volkszugehörigen steht in Russland eine inländische Fluchtalternative offen; das gilt auch dann, wenn sie nicht über einen gültigen Inlandspass verfügen.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Inguschetien (A), Kabardino-Balkarien (A), Freizügigkeit, Registrierung, Wolga-Region (A), Sicherheitslage, Wohnungsdurchsuchung, Festnahme, Übergriffe, nichtstaatliche Verfolgung, Skinheads, Nationalisten, Versorgungslage, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Passlosigkeit, Passbeschaffung, Inlandspass
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Tschetschenischen Volkszugehörigen steht in Russland eine inländische Fluchtalternative offen; das gilt auch dann, wenn sie nicht über einen gültigen Inlandspass verfügen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit dem angefochtenen Urteil zu Unrecht verpflichtet festzustellen, dass zugunsten der Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen.

An die Stelle des § 51 Abs. 1 AuslG ist mit Wirkung vom 01. Januar 2005 an die Vorschrift des § 60 Abs. 1 AufenthG getreten (vgl. Art. 15 Abs. 3 des Zuwanderungsgesetzes).

Denn selbst wenn beides zu bejahen und deshalb für die Prognose, ob die Kläger - wenn sie zum jetzigen Zeitpunkt in die Russische Föderation zurückkehrten - befürchten müssten, wegen ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit verfolgt zu werden, auf den herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit abzustellen wäre, könnten sie keinen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG beanspruchen.

Ob die Kläger bei einer Rückkehr nach Tschetschenien selbst hinreichend sicher wären, d.h. die Gefahr, dort Opfer eines asylrechtsrelevanten Übergriffs zu werden, als nur entfernte, realistischerweise nicht zu erwartende Möglichkeit erschiene, hält der Senat allerdings für zweifelhaft. (...) Selbst wenn diese Übergriffe und Rechtsverletzungen als Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger zu werten wären (verneinend: Thüringer OVG, Urt. v. 19.05.2005 - 3 KO 1004/04 -, das die Zahl der feststellbaren Verfolgungsfälle im Verhältnis zur Bevölkerungszahl als nicht ausreichend erachtet, um die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte zu belegen; offen gelassen von: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A - und OVG des Saarlandes, Urt. v. 23.06.2005 - 2 R 17/03 - ; eine Gruppenverfolgung bejahend: OVG Bremen, Urt. v. 09.03.2005 - 2 A 116/03.A -), handelte es sich doch nur um eine regionale Gruppenverfolgung; denn tschetschenische Volkszugehörige haben in anderen Gebieten der Russischen Föderation, d.h. außerhalb Tschetscheniens, eine sog. inländische Fluchtalternative.

Der Senat hatte in seinen Urteilen vom 24. April 2003 - 1 LB 212/01 und 1 LB 213/01 - die Nachbarrepublik Inguschetien als eine solche inländische Fluchtalternative angesehen. Ob diese Beurteilung, insbesondere nach der "Wahl" des moskautreuen Regierungschefs Sjasikow, der einen Politikwechsel in der Behandlung tschetschenischer Flüchtlinge einleitete, heute noch aufrecht erhalten werden kann, kann dahinstehen (Inguschetien als inländische Fluchtalternative jetzt verneinend: OVG Bremen - 2 A 116/03.A -, BayVGH, Urt. v. 31.01.2005 - 11 B 02.31597 -, OVG des Saarlandes - 2 R 17/03 -, S. 20 der UA, FN. 20 und 21, in denen die Situation tschetschenischer Flüchtlinge in Inguschetien unter Auswertung verschiedener Quellen geschildert wird; Inguschetien als inländische Fluchtalternative weiterhin bejahend: Thüringer OVG - 3 KO 1004/04 -; die Frage offen lassend: OVG Nordrhein-Westfalen - 11 A 2307/03.A - Ziff. 150 - 152 d. juris-Dokuments). Ebenfalls kann dahingestellt bleiben, ob der Auffassung des Bayerischen VGH im Urteil vom 31. Januar 2005 zu folgen ist, dass auch Kabardino-Balkarien sowie die Regionen Krasnodar und Stawropol als inländische Fluchtalternative ausscheiden (S. 11 - 13 d. UA). Tschetschenische Volkszugehörige können (jedenfalls) in diesen übrigen Landesteilen im Grundsatz einen legalen Aufenthalt begründen. Wie alle russischen Staatsbürger haben sie das in Art. 27 der Russischen Verfassung verankerte Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Wohnsitzes und des zeitweiligen Aufenthalts in der Russischen Föderation außerhalb ihrer Heimatrepublik. Zur Legalisierung des Aufenthalts bedarf es nach der Abschaffung des früheren Systems der Zuzugsgenehmigung ("Propiska") durch Gesetz vom 25. Juni 1993 nur noch der Anmeldung am Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") oder am Ort des zeitweiligen Aufenthalts ("vorübergehende Registrierung") (Auswärtiges Amt, Lagebericht Tschetschenien vom 30.08.2005, S. 15 f). Die Registrierung legalisiert nicht nur den Aufenthalt, sondern ist auch Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen sowie grundsätzlich auch zum kostenlosen Gesundheitssystem (Auswärtiges Amt, Lagebericht Tschetschenien vom 30.08.2005, S. 16).

Aber auch die Städte und Regionen, in denen die Registrierung tschetschenischer Volkszugehöriger restriktiv gehandhabt wird, scheiden deshalb nicht als inländische Fluchtalternative aus; denn gegen eine unberechtigte Ablehnung der Registrierung kann - auch gerichtlich - vorgegangen werden.

Was die Sicherheitslage für tschetschenische Volkszugehörige in den hier in Frage stehenden Teilen der Russischen Föderation angeht, ist den Erkenntnisquellen zu entnehmen, dass sich seit Beginn des 2. Tschetschenienkriegs im Herbst 1999 und insbesondere nach der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater im Oktober 2002 und den Terroranschlägen im August/September 2004 (Absturz zweier Passagierflugzeuge, Sprengstoffanschläge an einer Bushaltestelle und am Rigaer Bahnhof in Moskau, Geiselnahme an der Schule in Beslan), die ebenfalls tschetschenischen Separatisten zugeschrieben werden, der Kontrolldruck gegenüber tschetschenischen Volkszugehörigen und anderen Personen kaukasischer Herkunft bzw. vermeintlich südländischen oder kaukasischen Aussehens vorwiegend in den Großstädten Moskau und St. Petersburg, aber auch in anderen Bereichen der Russischen Föderation, signifikant erhöht hat.

Kontrollen als solche oder auch Wohnungsdurchsuchungen oder (ganz) kurzfristige Festnahmen erreichen aber schon nicht die notwendige Eingriffsintensität; denn diese Maßnahmen verletzen - noch - nicht die Menschenwürde, sie gehen nicht über das hinaus, was die Bewohner der Russischen Föderation aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 64, S. 17; OVG Nordrhein-Westfalen - 11 A 2307/03.A - Ziff. 126 d. juris-Dokuments).

Die Praxis russischer Polizisten, missliebigen Personen, auch tschetschenischen Volkszugehörigen, Beweismittel zu unterschieben, um so gegen sie einen strafrechtliche relevanten Verdacht zu konstruieren, ist seit Mitte des Jahres 2003 nicht mehr in größerem Umfang zu beobachten (BayVGH - 11 B 02.31597 - S. 27 d. UA unter Berufung auf Memorial, Bericht für den Zeitraum von Juni 2003 - Mai 2004, S. 48 und 60).

Der Senat verkennt bei allem nicht, dass es bei Verhaftungen, im Polizeigewahrsam und in Untersuchungshaft durchaus zu Menschenrechtsverletzungen im Form von Folter und anderer grausamer und erniedrigender Behandlung durch Polizei und Ermittlungsbehörden kommt. Abgesehen davon, ob es sich dabei nicht um sog. Amtswalterexzesse handelt, die dem russischen Staat nicht zurechenbar wären und die Übergriffe nicht nur oder in besonderem Maße tschetschenische Volkszugehörige betreffen, sondern ein allgemeines "Phänomen" darstellen (OVG Nordrhein-Westfalen - 11 A 2307103.A - Ziff. 130 d. juris-Dokuments, das Presseberichte zitiert, nach denen die Staatsanwaltschaft gegen solche Übergriffe vorgeht und in vielen Fällen die Verantwortlichen bestraft worden sind, sowie Ziff. 132 f), gibt es nach dem oben Dargelegten keine objektiven Anhaltspunkte dafür, dass die Möglichkeit, Opfer solcher Übergriffe zu werden, als real, d.h. nicht ganz entfernt, einzuschätzen wäre (zu diesem Maßstab, vgl. o.).

Tschetschenische Volkszugehörige wären bei einer Niederlassung in den - vorstehend bezüglich einer Verfolgung durch den russischen Staat bzw. seine Organe - als hinreichend sicher eingestuften Bereichen auch vor einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, die sich der russische Staat nach § 60 Abs. 1 S. 4 c AufenthG zurechnen lassen müsste, sofern er erwiesenermaßen nicht schutzfähig oder schutzbereit wäre, hinreichend sicher.

Die genannten Regionen der Russischen Föderation scheiden auch nicht deshalb als inländische Fluchtalternative für tschetschenische Volkszugehörige aus, weil dort das Existenzminimum für sie nicht gewährleistet wäre.

Geht man - wie der Senat - davon aus, dass tschetschenische Volkszugehörige bei entsprechenden Bemühungen eine dauerhafte oder vorübergehende Registrierung erlangen können, erscheinen diese Gefahren schon deshalb fernliegend, weil die Registrierung nicht nur den Aufenthalt legalisiert, sondern auch Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, die freilich ein sehr niedriges Niveau hat, zu staatlich gefördertem Wohnraum sowie grundsätzlich auch zum kostenlosen Gesundheitssystem ist (vgl. o.). Auch die Aufnahme einer legalen Erwerbstätigkeit wäre dann nicht eingeschränkt (Urteile des Senats v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 und 1 LB 213/01 - S. 18 d. UA). Aber selbst in dem zeitlichen "Zwischenraum" zwischen Beantragung und Erhalt der Registrierung und sogar in den Fällen, in denen es tschetschenischen Volkszugehörigen letztlich nicht gelingt, eine Registrierung zu erhalten, ist die Gefahr der Verelendung und des Hungertods nicht gegeben.

Selbst wenn jedoch entgegen dem eben Ausgeführten das Existenzminimum in den genannten Regionen nicht gewährleistet wäre, würde dies keinen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG begründen; denn das Fehlen des Existenzminimums wäre nicht verfolgungsbedingt: Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist die Lage in Tschetschenien im Vergleich zu diesen anderen Regionen deutlich schlechter.

Aus Deutschland abgeschobene tschetschenische Volkszugehörige haben auch keine asylrechtsrelevanten Übergriffe im Zusammenhang mit ihrer (Wieder-) Einreise nach Russland zu befürchten.

Nach der Einreise sind tschetschenische Volkszugehörige schließlich auch nicht gezwungen, sich zwecks Umtausch der alten sowjetischen Inlandspässe oder - falls sie, wie die Kläger, solche nicht mehr besitzen (vgl. S. 3 und 12 des Protokolls der Bundesamtsanhörung) - zwecks Neubeantragung eines russischen Inlandspasses vorübergehend nach Tschetschenien zu begeben, wo sie möglicherweise nicht hinreichend sicher wären (vgl. o.). Geht man - wie der Senat - davon aus, dass sich tschetschenische Volkszugehörige am Ort der inländischen Fluchtalternative erforderlichenfalls mit Hilfe von Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen und von Gerichten eine Registrierung im Grundsatz beschaffen können, stellt sich diese Problematik nicht; denn der Umtausch bzw. die Neubeantragung hat am Ort der Registrierung zu erfolgen.