VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 20.02.2006 - 9 B 04.30117 - asyl.net: M8338
https://www.asyl.net/rsdb/M8338
Leitsatz:
Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Glaubwürdigkeit, gemischt-ethnische Abstammung, Volkszugehörigkeit, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Armenien (A), Staatsangehörigkeit, Ausbürgerung, Einreiseverweigerung, Abmeldung, Verfolgungsbegriff, Staatenlose
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat den mit der Klage geltend gemachten Anspruch der Klägerin, das Bundesamt zu verpflichten festzustellen, dass bei ihr die Voraussetzungen § 51 Abs. 1 AuslG - jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG - hinsichtlich Aserbaidschans vorliegen, zu Recht als begründet angesehen.

Die Klägerin ist zwar nicht mehr aserbaidschanische Staatsangehörige. Sie hat jedoch Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans, weil sie von ihrer Geburt bis zur Ausreise im Jahr 2003 in diesem Land ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, rechtmäßige aserbaidschanische Staatsangehörige war, allein wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit ausgebürgert wurde und ihr die Wiedereinreise in das Land ihrer früheren Staatsangehörigkeit und ihres gewöhnlichen Aufenthalts verwehrt wird.

a) Ein Fortbestand ihrer früheren aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit ist nach den beigezogenen Auskünften und Berichten zu verneinen:

Zunächst war angenommen worden, Aserbaidschan setze die Wohnsitzregelung (ständiger Wohnsitz bei Inkrafttreten des Staatsangehörigkeitsgesetzes am 1. Oktober 1998) konsequent um (AA vom 11.4.2005). Wenig später wurde erkannt, dass Personen, die beim Verlassen Aserbaidschans die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit innehatten, nach wie vor als aserbaidschanische Staatsangehörige betrachtet wurden (AA vom 27.6.2005). Dieser Eindruck konnte deshalb entstehen, weil in der Tat bei der Mehrheit der in Russland lebenden aserbaidschanischen Staatsangehörigen in der Behördenpraxis ein Fortbestand der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit unterstellt wurde. Diese behördliche Handhabung der Wohnsitzregelung erklärt sich daraus, dass die Anwendung der Wohnsitzregelung im Staatsangehörigkeitsgesetz die Entlassung aller - etwa zwei Millionen - in Russland lebenden aserbaidschanischen Staatsangehörigen aus der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit zur Folge gehabt hätte. Diese Folge war aber hinsichtlich der in Russland oder in anderen Ländern lebenden aserischen Volkszugehörigen unerwünscht und sollte - nach der Intention des Gesetzgebers - vermieden werden. Deshalb stellte sich schließlich heraus, dass die Wohnsitzregelung mit der Folge des Verlusts der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit nur hinsichtlich der nicht mehr in Aserbaidschan lebenden, aber noch gemeldeten armenischen Volkszugehörigen angewendet wurde und wird (AA vom 29.8.2005). Die weiteren Erfahrungen zeigten, dass armenische Volkszugehörige einschließlich der Personen mit armenisch klingendem Namen in den Melderegistern nicht erfasst werden und - unabhängig vom Zeitpunkt des Verlassens Aserbaidschans - aus diesen gelöscht werden (AA vom 12. und 29.12.2005, TKI vom 6.10.2005). Wegen der Löschung aus den Melderegistern werden Armenier heute von Aserbaidschan nicht mehr als eigene Staatsangehörige angesehen mit der weiteren Folge, dass Ihnen eine Rückkehr nicht gestattet wird.

b) Nach dieser Rechtspraxis steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin wegen ihrer armenischen Volkzugehörigkeit oder auch wegen ihres armenisch klingenden Namens (die Endung des Familiennamens mit "jan" ist kennzeichnend für armenische Volkszugehörige) und einer deshalb angenommenen armenischen Volkszugehörigkeit im Melderegister gelöscht wurde und deshalb - unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Ausreise und der Löschung im Melderegister - vom aserbaidschanischen Staat nicht mehr als eigene Staatsangehörige angesehen wird. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall einer versehentlich unterbliebenen Löschung würde diese spätestens aus Anlass eines Antrags auf Ausstellung von Einreisedokumenten mit derselben Folge der Ausbürgerung vorgenommen.

Eine derartige Ausbürgerung, die wegen eines angeblich nicht mehr bestehenden Wohnsitzes in Inland nach der Rechtspraxis in Aserbaidschan allein bei armenischen Volkszugehörigen stattfindet, ist aber nach der "objektiven Gerichtetheit" der Motivation und Gewichtigkeit des Eingriffs als politische Verfolgung zu beurteilen (BVerwG vom 24.10.1995 NVwZ-RR 1996, 602 und vom 7.12.1999 - 9 B 474/99 Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 224). Folge dieser Ausbürgerung ist, dass Aserbaidschan eine Rücknahme von Armeniern, die nach der eigener Rechtspraxis staatenlos geworden sind, ablehnt (TS vom 14.12.2005). Auch diese Einreiseverweigerung ist als politische Verfolgung zu werten (vgl. BVerwG vom 24.10.1995 und 7.12.1999 aaO). Dem kann nicht entgegen gehalten werden, dass jeder Staat im Rahmen des Völkerrechts selbst bestimmen kann, welche Personen er als seine Staatsangehörigen anerkennt. Grundsätzlich kann ein Staat zwar selbst bestimmen, nach welchen Kriterien er seine Staatsangehörigkeit verleiht, anerkennt oder entzieht. Bürgert ein Staat aber seine bisher rechtmäßigen Staatsangehörigen allein aus Gründen der - missliebigen - Volkszugehörigkeit aus und verweigert er ihnen die Einreise, dann sind diese allein der Volkzugehörigkeit geltenden Maßnahmen als politische Verfolgung zu beurteilen.

c) Ist die Klägerin aber politisch Verfolgte, weil sie wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit ausgebürgert wurde und ihr deshalb die Wiedereinreise in das Land ihrer Geburt, ihrer legitimen früheren Staatsangehörigkeit und ihres ständigen Aufenthalts verweigert wird, dann kommt es nicht mehr darauf an, ob ihr heute eine zumutbare Fluchtalternative in einem Teil des Staatsgebiets - nämlich Berg-Karabach - offensteht, in dem der aserbaidschanische Staat keine Herrschaftsgewalt mehr ausüben kann. Wenn es sich bei der Ausbürgerung und der Einreiseverweigerung wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit um asylerhebliche Rechtsbeeinträchtigungen im Sinne eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG handelt, können diese nicht deshalb irrelevant sein, weil es der Klägerin möglicherweise gelingen könnte, unter erheblichen Mühen und mit zeitlicher Verzögerung nach Berg-Karabach zu gelangen und sich dort niederzulassen.

Wer in seiner Heimat durch asylerheblichen Rechtsentzug - Aberkennung der Staatsangehörigkeit und Verweigerung des Rechts auf Wiedereinreise - im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG politisch verfolgt ist, dem kann der sich daraus ergebende Status einschließlich der Anerkennung als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der entsprechenden rechtlichen Begünstigungen nicht mit dem Hinweis darauf verweigert werden, er könne sich mit einiger Aussicht auf Erfolg in einem anderen Land um Asyl, Anerkennung als Flüchtling oder um dessen Staatsangehörigkeit bemühen und schließlich von dort aus in einen Landesteil seines Heimatstaates gelangen, in dem er vor politischer Verfolgung des Heimatstaates sicher ist, weil dieser in diesem Teilbereich keine Herrschaftsgewalt mehr hat. Das gilt auch dann, wenn der Staat des notwendigen Zwischenaufenthalts - Armenien - wie auch das Zielterritorium - Berg-Karabach - in Folge verfolgungsfreien Aufenthalts sich in ethnischer und sprachlicher Hinsicht wegen der beim Asylbewerber vorhandenen Merkmale als Zuflucht anbieten mag. Die Genfer Flüchtlingskonvention wie auch das nationale Recht gehen nämlich davon aus, dass es Sache des Flüchtlings oder des Asylbewerbers ist, den Zielstaat seiner Flucht selbst zu bestimmen. Aus diesem Grund ist auch nur für die Anerkennung als Asylberechtigter erheblich, ob ein Flüchtling aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist oder auf der Flucht anderweitige Sicherheit vor Verfolgung gefunden hat (Art. 16 a Abs. 2 GG, §§ 26 a, 27 AsylVfG). Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und den Status eines Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist aber grundsätzlich ohne Bedeutung, ob ein Flüchtling in einem anderen Staat als der Bundesrepublik Deutschland Schutz vor politischer Verfolgung hätte finden können oder finden kann. Das gilt auch dann, wenn die Flucht über das Gebiet eines solchen Staates geführt hat. Im übrigen wäre ein gesicherter, verfolgungsfreier Daueraufenthalt und die "Staatsangehörigkeit" des völkerrechtlich nicht als Staat anerkannten Gebiets Berg-Karabach kein Ausgleich der asylerheblichen Rechtsbeeinträchtigung durch Entzug der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit und des Rechts auf Wiedereinreise.