VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.12.2005 - 12 A 169/03 - asyl.net: M8340
https://www.asyl.net/rsdb/M8340
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Dagestan, Wahabiten, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, interne Fluchtalternative, Tschetschenen, Freizügigkeit, Registrierung, Personenkontrollen, Razzien
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich de Russischen Föderation.

Letztlich können diese aufgezeigten Zweifel und die Glaubhaftigkeit des Klägers hier deshalb dahinstehen, weil die erkennende Einzelrichterin davon ausgeht, dass dem Kläger zum Zeitpunkt der Ausreise in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb Dagestans eine interne Schutzalternative zur Verfügung gestanden hat.

Eine interne Schutzalternative ist dann gegeben, wenn in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung und keine tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden und vom Flüchtling vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält (vgl. Artikel 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates). Bei der Prüfung, ob in einem Teil des Herkunftslandes diese Voraussetzungen erfüllt sind, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Flüchtlings zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen (Artikel 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates). Dies bedeutet, dass eine interne Schutzalternative dann zu verneinen ist, wenn dort eine existentielle Gefährdung für den Flüchtling besteht. Dies gilt auch in den Fällen, in denen diese existentielle Gefährdung ebenfalls am Herkunftsort bestanden hat bzw. weiterhin bestehen würde.

Selbst wenn davon auszugehen sein sollte, dass eine staatliche Schutzbereitschaft gegen Übergriffe privater Dritter durch lokale Behörden und Sicherheitsorgane in Dagestan nicht gegeben sein sollte, ist es dem Kläger zumutbar gewesen, sich diesen behaupteten Übergriffen privater Dritter durch Schutzgewährung in anderen Landesteilen zu entziehen. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger außerhalb Dagestans eine asylrelevante staatliche Verfolgung wegen fehlendem Schutz gegenüber Übergriffen von Wahabiten droht, sind der Auskunftslage nicht zu entnehmen. Hinsichtlich der geltend gemachten Gefahr der Übergriffe durch private Dritte gilt, dass sich diese ausschließlich auf die örtlichen Strukturen in seinem Heimatort in Dagestan selbst beziehen dürften und sich nicht landesweit realisieren. Es liegen auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass (nichttschetschenischen) Flüchtlingen aus Dagestan in den anderen Gebieten der Russischen Föderation eine Niederlassung nicht gewährt wird oder solche Personen zwangsweise nach Dagestan zurückgeführt werden (AA, Auskunft vom 11.4.2003 an VG Göttingen). Die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung rechtfertigen keine andere Betrachtungsweise. Hinsichtlich der geltend gemachten staatlichen Verfolgung durch "die Verwaltung" gilt Folgendes:

Zwar besteht gegenüber kaukasisch aussehenden Personen im gesamten Gebiet der Russischen Föderation insbesondere im Zusammenhang mit den Vorgängen in Tschetschenien die Gefahr diskriminierender Praktiken wie besonders häufigen Personenkontrollen und Beschränkungen in der Niederlassungsfreiheit. Die am stärksten von staatlichen Eingriffsmaßnahmen seitens der russischen Regierung betroffene Gruppe auf dem Gebiet der Russischen Föderation sind ethnische Tschetschenen, die aus Tschetschenien in andere Regionen der Russischen Föderation geflohen sind. Hinsichtlich dieser Gruppe gilt Folgendes:

Landesweit besteht nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit der politischen Verfolgung in Anknüpfung an die tschetschenische Volkszugehörigkeit, auch wenn von einer hinreichenden Verfolgungssicherheit bei vorverfolgten Tschetschenen in der gesamten Russischen Föderation nach Ansicht des Gerichts (vgl. Urt. vom 10.Juli 2003, 12 A 11/03) nicht auszugehen ist.

In der Praxis wird in den Subjekten der Russischen Föderation nach wie vor an vielen Orten der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken durch Verwaltungsvorschriften sehr stark erschwert und damit das Recht auf Freizügigkeit eingeschränkt.

Auch angesichts dieser allgemein schlechten, von anti-tschetschenischer Stimmung, Ausländerhass und Behördenwillkür geprägten Situation im gesamten Gebiet der RF ist hinsichtlich der tschetschenischen Volkszugehörigen zu unterscheiden zwischen den aus Tschetschenien vertriebenen Binnenflüchtlingen und ethnischen Tschetschenen, die bereits in Russland registriert waren. In der RF sollen einige Hunderttausende ethnische Tschetschenen legal außerhalb Tschetscheniens leben. Diese sind nach Gesetz und Praxis berechtigt, an dem betreffenden Registrierungsort gleich anderen Bewohnern zu leben. Maßnahmen der Behörden und Sicherheitskräfte betreffen in erster Linie tschetschenische Binnenflüchtlinge aus Tschetschenien (UNHCR-Stellungnahme über Asylsuchende aus der RF im Zusammenhang mit der Lage in Tschetschenien, Januar 2002).

Auch die Entwicklung der Lage rückgeführter oder binnenvertriebener Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens in den Jahren 2003 und 2004 lässt nach der vorliegenden Auskunftslage derzeit eine andere Beurteilung im Hinblick auf eine landesweite beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht zu. Zwar hat sich der Druck auf tschetschenische Volkszugehörige wie auch auf andere kaukasische Ethnien insbesondere nach den Terroranschlägen von August 2004 und der Geiselnahme in Beslan nochmals verschärft und die anti-tschetschenische Stimmung in der russischen Bevölkerung verstärkt.

Indes ist weiterhin davon auszugehen, dass landesweit die Zahl der asylrelevanten Übergriffe nicht das Maß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erreicht. Nicht bereits jede Hausdurchsuchung, Personenkontrolle und Verweigerung der Zuerkennung eines legalen Aufenthaltsrechts übersteigt die Schwelle asylerheblicher ausgrenzender Verfolgung.

Hinsichtlich anderer, nicht-tschetschenischer Ethnien aus dem Nordkaukasus lässt sich hingegen eine derartig restriktive und willkürliche Praxis nicht in dem gleichen Ausmaß feststellen. Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass (nicht-tschetschenischen) Flüchtlingen aus Dagestan in den anderen Gebieten der Russischen Föderation eine Niederlassung nicht gewährt wird oder solche Personen zwangsweise nach Dagestan zurückgeführt werden (AA, 11.4.2003 an VG Göttingen).