VG Neustadt a.d.W.

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Zitieren als:
VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 22.05.2006 - 3 K 22/06.NW - asyl.net: M8351
https://www.asyl.net/rsdb/M8351
Leitsatz:

Kein religiöses Existenzminimum für zum Christentum konvertierte Moslems im Iran.

 

Schlagwörter: Iran, Christen, Konversion, Apostasie, Missionierung, subjektive Nachfluchtgründe, Folgeantrag, Religionsfreiheit, religiös motivierte Verfolgung, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, religiöses Existenzminimum, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 5; GFK Art. 33; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 9
Auszüge:

Kein religiöses Existenzminimum für zum Christentum konvertierte Moslems im Iran.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte feststellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind.

Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG scheidet bereits nach § 28 Abs. 2 AsylVfG vom 26. Juni 1992 (BGBl. I, 1192) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (BGBl. I, 1361), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I, 1950) aus.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG sind indessen erfüllt. Die Unzulässigkeit der Abschiebung ergibt sich hier daraus, dass die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK in ihrem Kernbereich im Iran nicht garantiert ist.

Nach Artikel 9 Abs. 1 der Konvention hat nämlich jedermann Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben. Nach Abs. 2 darf die Religions- und Bekenntnisfreiheit nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.

Zu dem menschenrechtlichen Mindeststandard, dessen Missachtung in einem Nicht-Vertragsstaat eine Abschiebung dorthin unzulässig machen kann, gehört ein unveräußerlicher - nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht beschränkbarer - Kern der Religionsfreiheit, der für die personale Würde und Entfaltung eines jeden Menschen unverzichtbar ist (BVerwG, Urteil vom 24. Mai 2000 - 1 C 17/01 -, BVerwGE 111, 223-230). Dessen Verletzung kann im Einzelfall zu einem Abschiebungsverbot aus der EMRK führen. Dieser unbedingt zu schützende menschenrechtliche Kern der Religionsfreiheit reicht indessen nicht weiter als das so genannte religiöse Existenzminimum, wie es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts durch das Asylrecht geschützt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 1994 - 2 BvR 1426/91 -, NVwZ-Beilage 1995, 33 f. und BVerwG a.a.O.).

Die Praktizierung des christlichen Glaubens in diesem Umfang ist für Konvertiten im Iran aber nicht gewährleistet.

Die Lage der zum Christentum konvertierten Muslime im Iran stellt sich danach und unter Einbeziehung der jüngsten Entwicklung wie folgt dar: Der Iran steht für das Jahr 2006 an dritter Stelle auf dem "Welt-Verfolgungs-Index" des christlichen Hilfswerks Open Doors, in den Jahren 2004 und 2005 belegte er noch den fünften Platz unter 50 Ländern, in denen Repressionen gegen Christen beobachtet worden sind. Auf diesen Verfolgungs-Index weist das Auswärtige Amt in seinem neuesten Lagebericht vom 24. März 2006 ausdrücklich hin. Ein entsprechender Hinweis auf diesen Index fehlte in den früheren Lageberichten des Auswärtigen Amtes.

In dem vom Auswärtigen Amt in Bezug genommenen im Internet allgemein zugänglichen "Welt-Verfolgungs-Index" für das Jahr 2006 wird unter Nr. 3.1 "Die ersten Zehn im Detail" zum Iran ausgeführt, die Verschlechterung der Religionsfreiheit für Christen habe 2004 mit dem Sieg konservativer Parteien begonnen. Auf die Wahl von Mahmud Ahmadinedschad zum Präsidenten im Juni 2005 habe eine neue Welle der Christenverfolgung eingesetzt. Örtliche Behörden im ganzen Land seien angewiesen worden, gegen alle christlichen Hausgemeinden hart vorzugehen. Dies habe dazu geführt, dass die christlichen Kirchen einem Gläubigen mit muslimischem Hintergrund nicht mehr beistünden. Gläubige mit muslimischem Hintergrund würden sich jetzt in geheimen Hausgemeinden versammeln.

Es ist danach festzustellen, dass die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich und die Möglichkeit zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich im Iran nur unter konspirativen Bedingungen möglich sind. Hierbei dürfe es nur nicht zu laut hergehen und die Einstellung der Wohnungsnachbarn müsse ungefähr bekannt sein, so das Deutsche Orient-Institut in seiner Stellungnahme vom 6. Dezember 2004. Auch dürften die Versammlungen nicht zu häufig stattfinden. Die Einhaltung derartiger Vorsichtsmaßnahmen bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Treffen ist auch geboten, weil das Ermitteln und Aufgreifen Verdächtiger sich weitgehend im pseudostaatlich-revolutionären Bereich der islamischen Bewegung und deren Exponenten, den Revolutionswächtern, Hisbollahs und Revolutionskomitees, die die staatlichen Institutionen als eine Art Parallelordnung überlagern, vollzieht. Die Überwachung durch die islamischen Kräfte reicht bis in die unmittelbare Nachbarschaft, wo Verdächtigungen und Denunziationen blühen und selbst ins Innere von Familien vordringen können (so OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03. April 2001 - 7 A 11797/00.OVG -).

Vor diesem Hintergrund ist für das Gericht nicht zu erkennen, auf welchem Weg ein in Deutschland zum Christentum konvertierter Iraner nach seiner Rückkehr in die Islamische Republik Iran zu einer solchen im Geheimen ihren christlichen Glauben praktizierenden Hausgemeinde Kontakt knüpfen soll. Das Auswärtige Amt führt in seiner Auskunft vom 15. Dezember 2004 aus, es bestünden innerhalb des Iran nach Darstellung der christlichen Kirchen zirka 100 christliche Hausgemeinschaften. Angesichts der Einwohnerzahl des Iran von etwa 68 Millionen und einer Größe des Landes von 1,6 Millionen qkm ist die Dichte der Hausgemeinden sehr gering. Selbst wenn sich diese Gemeinschaften auf Städte konzentrieren - es gibt allein sieben Millionenstädte, im Ballungsraum Teheran leben etwa 12 Millionen Menschen - vermag das Gericht nicht zu erkennen, auf welchem Weg der Kläger eine Hausgemeinschaft finden soll. Er kann nicht an bereits vor seiner Ausreise bestehende und durch den Auslandsaufenthalt nur unterbrochene Beziehungen anknüpfen, sondern muss als im Ausland zum Christentum Konvertierter das Vertrauen von Mitgliedern einer sehr kleinen verbotenen Gemeinschaft gewinnen. Kann der Kläger damit seinen christlichen Glauben voraussichtlich nicht im häuslich-privaten Bereich leben und besteht wahrscheinlich nicht die Möglichkeit zum religiösen Bekenntnis im häuslich-privaten und nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, so ist das religiöse Existenzminimum nicht gewährleistet. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist aber dieser Bereich durch § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 9 EMRK geschützt. Da der Kläger sich in der mündlichen Verhandlung des Gerichts als überzeugter Christ dargestellt hat, ist ihm der Schutz nach den genannten Vorschriften zu gewähren.