EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 27.06.2006 - C-540/03 - EU Parlament gg. Rat der EU - asyl.net: M8356
https://www.asyl.net/rsdb/M8356
Leitsatz:

Die Richtlinie 2003/86/EG zum Recht auf Familienzusammenführung verstößt nicht gegen Grundrechte, insbesondere Art. 8 EMRK; die Richtlinie ermächtigt die Mitgliedstaaten nicht, gegen Grundrechte zu verstoßen, vielmehr haben sie bei der Umsetzung die Grundrechte, insbesondere die Achtung des Familienlebens und das Kindeswohl, angemessen zu berücksichtigen.

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Familienzusammenführungsrichtlinie, Grundrechte, Europarecht, Europäischer Gerichtshof, Klage, Zulässigkeit, Europäisches Parlament, Nichtigkeitsklage, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Charta der Grundrechte, Integration, Kindernachzug, Alter, Altersdiskriminierung, Schutz von Ehe und Familie, UN-Kinderrechtskonvention, Kindeswohl, Wartezeit, Umsetzung, Gemeinschaftsrecht
Normen: RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1; RL 2003/86/EG Art. 5 Abs. 5; RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 6; RL 2003/86/EG Art. 8; EMRK Art. 8; EMRK Art. 14; EG Art. 230
Auszüge:

Die Richtlinie 2003/86/EG zum Recht auf Familienzusammenführung verstößt nicht gegen Grundrechte, insbesondere Art. 8 EMRK; die Richtlinie ermächtigt die Mitgliedstaaten nicht, gegen Grundrechte zu verstoßen, vielmehr haben sie bei der Umsetzung die Grundrechte, insbesondere die Achtung des Familienlebens und das Kindeswohl, angemessen zu berücksichtigen.

(Leitsatz der Redaktion)

1 Mit seiner Klageschrift beantragt das Europäische Parlament die Nichtigerklärung des Artikels 4 Absätze 1 letzter Unterabsatz und 6 sowie des Artikels 8 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12, im Folgenden: Richtlinie).

Zu den Rechtsnormen, anhand deren die Rechtmäßigkeit der Richtlinie überprüft werden kann

35 Die Grundrechte sind integraler Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Der Gerichtshof lässt sich dabei von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Hierbei kommt der EMRK besondere Bedeutung zu (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 41, Gutachten 2/94 vom 28. März 1996, Slg. 1996, I-1759, Randnr. 33, sowie Urteile vom 6. März 2001 in der Rechtssache C-274/99 P, Connolly/Kommission, Slg. 2001, I-1611, Randnr. 37, vom 22. Oktober 2002 in der Rechtssache C-94/00, Roquette Frères, Slg. 2002, I-9011, Randnr. 25, vom 12. Juni 2003 in der Rechtssache C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Randnr. 71, und vom 14. Oktober 2003 in der Rechtssache C-36/02, Omega, Slg. 2003, I-9609, Randnr. 33).

37 Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu den völkerrechtlichen Instrumenten zum Schutz der Menschenrechte gehört, denen er bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Rechnung trägt (vgl. u. a. Urteile vom 18. Oktober 1989 in der Rechtssache 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283, Randnr. 31, vom 18. Oktober 1990 in den Rechtssachen C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Randnr. 68, und vom 17. Februar 1998 in der Rechtssache C-249/96, Grant, Slg. 1998, I-621, Randnr. 44). Das gilt auch für das genannte Übereinkommen über die Rechte des Kindes, das wie dieser Pakt jeden der Mitgliedstaaten bindet.

38 Was die Charta anbelangt, so wurde sie am 7. Dezember 2000 in Nizza vom Parlament, dem Rat und der Kommission feierlich proklamiert. Auch wenn es sich dabei nicht um ein bindendes Rechtsinstrument handelt, wollte der Gemeinschaftsgesetzgeber doch ihre Bedeutung anerkennen, indem er in der zweiten Begründungserwägung der Richtlinie ausgeführt hat, dass diese nicht nur die in Artikel 8 EMRK, sondern auch die in der Charta anerkannten Grundsätze beachtet.

Zu Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie

52 Einleitend ist darauf zu verweisen, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Artikel 8 EMRK zu den Grundrechten gehört, die nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden (Urteile Carpenter, Randnr. 41, und Akrich, Randnrn. 58 und 59). Dieses Recht, mit seinen nahen Verwandten zu leben, bringt für die Mitgliedstaaten Verpflichtungen mit sich, bei denen es sich um negative Verpflichtungen handeln kann, wenn einer von ihnen eine Person nicht ausweisen darf, oder um positive, wenn er verpflichtet ist, eine Person in sein Hoheitsgebiet einreisen und sich dort aufhalten zu lassen.

57 Im Übereinkommen über die Rechte des Kindes wird der Grundsatz der Achtung des Familienlebens ebenfalls anerkannt.

58 Auch die Charta erkennt in ihrem Artikel 7 das Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens an.

59 Diese verschiedenen Texte unterstreichen die Bedeutung des Familienlebens für das Kind und empfehlen den Staaten die Berücksichtigung des Kindeswohls, sie begründen aber für die Mitglieder einer Familie kein subjektives Recht auf Aufnahme im Hoheitsgebiet eines Staates und lassen sich nicht dahin auslegen, dass den Staaten bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung kein Ermessensspielraum verbliebe.

60 Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie geht über diese Bestimmungen hinaus und gibt den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da er den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei ihren Ermessensspielraum ausüben könnten.

61 Was Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie anbelangt, so bewirkt dieser unter genau definierten Umständen, nämlich dann, wenn ein Kind über 12 Jahre unabhängig vom Rest der Familie ankommt, dass die Mitgliedstaaten ihren Ermessensspielraum zum Teil behalten, indem ihnen zugestanden wird, zu prüfen, ob das Kind ein zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie im geltenden nationalen Recht vorgesehenes Integrationskriterium erfüllt, bevor sie ihm die Einreise und den Aufenthalt gemäß der Richtlinie gestatten.

62 Mit dieser Regelung steht Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie nicht im Gegensatz zum Recht auf Achtung des Familienlebens. Denn den Mitgliedstaaten wird damit im Rahmen einer Richtlinie, die diesen Staaten präzise positive Verpflichtungen auferlegt, ein begrenzter Ermessensspielraum belassen, der nicht anders ist als der, der ihnen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung zu diesem Recht zugestanden wird, um in jedem Einzelfall die betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen.

63 Im Übrigen müssen die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie bei dieser Interessenabwägung dafür Sorge tragen, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.

64 Außerdem ist Artikel 17 der Richtlinie zu beachten, der den Mitgliedstaaten aufgibt, in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland zu berücksichtigen. Wie sich aus Randnummer 56 des vorliegenden Urteils ergibt, entsprechen diese Kriterien denjenigen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für die Überprüfung heranzieht, ob ein Staat, der einen Antrag auf Familienzusammenführung abgelehnt hat, die betroffenen Interessen ordnungsgemäß gegeneinander abgewogen hat.

65 Schließlich handelt es sich auch beim Alter eines Kindes sowie dem Umstand, dass es unabhängig von seiner Familie ankommt, um Faktoren, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte herangezogen werden; dieser berücksichtigt die Bindungen des Kindes zu Mitgliedern seiner Familie in seinem Herkunftsstaat wie auch zum kulturellen und sprachlichen Umfeld dieses Landes (vgl. u. a. Urteile Ahmut/Niederlande, § 69, und Gül/Schweiz, § 42).

66 Was das Integrationskriterium betrifft, so verstößt es als solches nicht gegen das in Artikel 8 EMRK ausgedrückte Recht auf Achtung des Familienlebens. Dieses Recht ist - wie aufgezeigt - nicht so auszulegen, dass ein Mitgliedstaat danach notwendigerweise verpflichtet wäre, die Familienzusammenführung in seinem Hoheitsgebiet zu gestatten, und Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie belässt dem Mitgliedstaat nur seinen Ermessensspielraum, wobei er diesen auf die Prüfung eines von den nationalen Rechtsvorschriften festgelegten Kriteriums beschränkt, die der Mitgliedstaat unter Wahrung insbesondere der in den Artikeln 5 Absatz 5 und 17 der Richtlinie niedergelegten Grundsätze vorzunehmen hat. Jedenfalls kann das Erfordernis der Integration unter mehrere der in Artikel 8 Absatz 2 EMRK genannten rechtmäßigen Ziele fallen.

70 Dass der Begriff der Integration nicht definiert wird, kann nicht als eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten gedeutet werden, diesen Begriff in einer Weise zu verwenden, die gegen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere gegen die Grundrechte verstößt. Die Mitgliedstaaten, die von der Ausnahmeregelung Gebrauch machen wollen, können nämlich keinen unbestimmten Integrationsbegriff heranziehen, sondern müssen das zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie in ihren Rechtsvorschriften vorgesehene Integrationskriterium anwenden, wenn sie die besondere Situation eines Kindes über 12 Jahre prüfen, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt.

71 Folglich kann Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit ermächtigt, Umsetzungsbestimmungen zu erlassen, die im Widerspruch zum Recht auf Achtung des Familienlebens stehen.

74 In diesem Zusammenhang stellt die Wahl des Alters von 12 Jahren kein Kriterium dar, mit dem gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen würde, da dieses Kriterium auf eine Phase im Leben des minderjährigen Kindes abstellt, in der es bereits über einen verhältnismäßig langen Zeitraum ohne seine Familienmitglieder in einem Drittstaat gelebt hat, so dass eine Integration in ein anderes Umfeld zu mehr Schwierigkeiten führen kann.

Zu Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie

85 Es ist nicht ersichtlich, dass die angefochtene Bestimmung gegen das in Artikel 8 EMRK niedergelegte Recht auf Achtung des Familienlebens in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verstößt. Denn Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten die Befugnis ein, die Anwendung der in der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen für die Familienzusammenführung auf Anträge zu beschränken, die gestellt wurden, bevor Kinder das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben. Doch kann diese Bestimmung nicht so ausgelegt werden, als würde sie es den Mitgliedstaaten verbieten, einen Antrag in Bezug auf ein über 15 Jahre altes Kind zu prüfen, oder sie dazu ermächtigen, von der Prüfung abzusehen.

86 Unerheblich ist insoweit, dass der letzte Satz der angefochtenen Bestimmung vorsieht, dass die Mitgliedstaaten, die die Ausnahmeregelung anwenden, die Einreise und den Aufenthalt von Kindern, für die der Antrag nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt wird, "aus anderen Gründen als der Familienzusammenführung" gestatten. Der Ausdruck "Familienzusammenführung" ist nämlich im Kontext der Richtlinie so auszulegen, dass damit die Familienzusammenführung in den Fällen gemeint ist, in denen sie von der Richtlinie vorgeschrieben wird. Er lässt sich nicht dahin auslegen, dass es einem Mitgliedstaat, der die Ausnahmeregelung anwendet, danach verboten wäre, die Einreise und den Aufenthalt eines Kindes zu genehmigen, um ihm das Zusammenleben mit seinen Eltern zu ermöglichen.

87 Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie muss im Übrigen im Licht der Grundsätze gelesen werden, die in Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie, der den Mitgliedstaaten die gebührende Berücksichtigung des Kindeswohls vorschreibt, und Artikel 17 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen haben, darunter die familiären Bindungen der betreffenden Person, aufgestellt werden.

88 Folglich bewirkt Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie zwar, dass ein Mitgliedstaat vorsehen kann, dass die von minderjährigen Kindern über 15 Jahre gestellten Anträge nicht den allgemeinen Bedingungen nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie unterliegen, doch bleibt der Mitgliedstaat verpflichtet, den Antrag im Hinblick auf das Kindeswohl und im Bemühen um eine Förderung des Familienlebens zu prüfen.

Zu Artikel 8 der Richtlinie

98 Diese Bestimmung führt daher nicht zum Ausschluss jeder Familienzusammenführung, sondern belässt den Mitgliedstaaten einen beschränkten Ermessensspielraum, indem sie es ihnen ermöglicht, sich zu vergewissern, dass die Familienzusammenführung unter guten Voraussetzungen stattfindet, nachdem der Zusammenführende so lange im Aufnahmestaat gelebt hat, dass eine stabile Ansiedlung und ein gewisses Integrationsniveau angenommen werden können. Dass ein Mitgliedstaat diese Faktoren berücksichtigt und dass die Familienzusammenführung um zwei oder gegebenenfalls drei Jahre verzögert werden kann, verstößt daher nicht gegen das insbesondere in Artikel 8 EMRK niedergelegte Recht auf Achtung des Familienlebens in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

99 Allerdings ist darauf zu verweisen, dass die Dauer des Aufenthalts in dem Mitgliedstaat, wie sich aus Artikel 17 der Richtlinie ergibt, nur einer der Faktoren ist, die der Mitgliedstaat bei der Prüfung eines Antrags zu berücksichtigen hat, und dass eine Wartefrist nicht auferlegt werden kann, ohne dass in spezifischen Fällen alle einschlägigen Faktoren berücksichtigt werden.

100 Ebenso verhält es sich mit dem Kriterium der Aufnahmefähigkeit des Mitgliedstaats, das einer der Faktoren sein kann, die bei der Prüfung eines Antrags berücksichtigt werden, sich aber nicht dahin auslegen lässt, dass damit ein wie auch immer geartetes Quotensystem oder eine ohne Rücksicht auf die besonderen Umstände der spezifischen Fälle vorgeschriebene dreijährige Wartefrist zugelassen würde. Denn die in Artikel 17 der Richtlinie vorgesehene Analyse aller Faktoren lässt es nicht zu, nur auf diesen Faktor abzustellen, und gebietet es, dass eine tatsächliche Prüfung der Aufnahmefähigkeit zum Zeitpunkt des Antrags vorgenommen wird.

101 Bei dieser Analyse müssen die Mitgliedstaaten, wie in Randnummer 63 dieses Urteils ausgeführt, außerdem dafür sorgen, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.

102 Die Koexistenz verschiedener Situationen, je nachdem, ob sich die einzelnen Mitgliedstaaten dafür entscheiden, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, eine Wartefrist von zwei oder drei Jahren vorzusehen, soweit ihr bei Annahme der Richtlinie geltendes Recht ihre Aufnahmefähigkeit berücksichtigt, ist nur Ausdruck der Schwierigkeit, eine Angleichung der Rechtsvorschriften in einem Bereich vorzunehmen, der bisher in die Zuständigkeit allein der Mitgliedstaaten fiel. Wie das Parlament selbst anerkennt, ist die Richtlinie insgesamt für die harmonisierte Verwirklichung des Rechts auf Familienzusammenführung wichtig. Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber die von den Grundrechten vorgegebenen Grenzen überschritten hätte, indem er es den Mitgliedstaaten, in denen besondere Rechtsvorschriften bestanden oder die solche besonderen Rechtsvorschriften zu erlassen wünschten, erlaubt hat, bestimmte Aspekte des Rechts auf Zusammenführung abzuwandeln.

103 Folglich verstößt Artikel 8 der Richtlinie nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens oder die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls, und zwar weder als solcher noch insofern, als er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit zu einem derartigen Vorgehen ermächtigt.

104 Letztlich ist festzustellen, dass, soweit die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum belässt, dieser weit genug ist, um ihnen die Anwendung der Vorschriften der Richtlinie in einer mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes im Einklang stehenden Weise zu ermöglichen (in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 1989 in der Rechtssache 5/88, Wachauf, Slg. 1989, 2609, Randnr. 22).

105 Dazu ist darauf zu verweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung auch die Mitgliedstaaten die Erfordernisse des Schutzes der in der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannten allgemeinen Grundsätze, zu denen auch die Grundrechte zählen, bei der Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen zu beachten haben; sie müssen diese Regelungen deshalb, soweit irgend möglich, so anwenden, dass diese Erfordernisse nicht verkannt werden (vgl. Urteile vom 24. März 1994 in der Rechtssache C-2/92, Bostock, Slg. 1994, I-955, Randnr. 16, und vom 18. Mai 2000 in der Rechtssache C-107/97, Rombi und Arkopharma, Slg. 2000, I-3367, Randnr. 65, in diesem Sinne auch Urteil ERT, Randnr. 43).