VG Leipzig

Merkliste
Zitieren als:
VG Leipzig, Beschluss vom 09.06.2006 - A 5 K 30055/06 - asyl.net: M8366
https://www.asyl.net/rsdb/M8366
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, nichtpolitisches Verbrechen, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, Terrorismusvorbehalt, Mitglieder, PKK, Wiederholungsgefahr, Folter, menschenrechtswidrige Behandlung, Roj-TV, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Einreise, Kurden, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, offensichtlich unbegründet, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AsylVfG § 36 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; GFK Art. 1 F; RL 2004/83/EG Art. 12 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 3
Auszüge:

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die angedrohte Abschiebung der Antragstellerin, über den gemäß § 76 Abs. 4 S. 1 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG - der Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet, hat insoweit Erfolg, als in der Abschiebungsandrohung die Abschiebung in die Türkei angedroht wurde.

1. Das Bundesamt hat entschieden, dass die Voraussetzungen der Asylberechtigung sowie jene des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht gegeben sind. Dies begegnet im Hinblick auf das Vorbringen der Antragstellerin erheblichen Zweifeln (Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG; § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG; zum Entscheidungsmaßstab vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996, BVerfGE 94, 166; Beschl. v. 16.03.1999, InfAuslR 1999, 256). Vorliegend erscheint schon problematisch, ob die Antragstellerin überhaupt unter den von § 60 Abs. 8 AufenthG erfassten Personenkreis zu subsumieren ist.

Allerdings kann sich im Einzelfall die Beantwortung der Frage als schwierig erweisen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedschaft und Mitarbeit in einer Organisation, der konkrete terroristische Gewalttaten, Kriegsverbrechen etc. zugeschrieben werden können, bereits als eine Tat im Sinne des § 60 Abs. 8 AufenthG zu betrachten ist. Unproblematisch ist dies bei denjenigen Personen, die Täter oder Teilnehmer (Anstifter und Gehilfe) im strafrechtlichen Sinn bezüglich der jeweiligen Straftat oder Handlung sind, die in § 60 Abs. 8 AufenthG zum konkreten Anknüpfungspunkt genommen wird (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Anwendung der Ausschlussklauseln, ZAR 2004, 207 Nr. 18). Problematischer sind hingegen die Fälle, zu denen wohl auch die Antragstellerin zu rechnen ist, in denen etwa "nur" ein "Organisationsdelikt" begangen wurde und beispielsweise keine Täterschaft oder Teilnahme an erheblichen, insbesondere terroristischen Gewalttaten selbst festgestellt werden kann. Zunächst besteht weitestgehend Einigkeit, dass die hier zugrunde liegenden Bestimmungen der Art. 1 F Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - und Art. 33 Abs. 2 GFK eng auszulegen sind und zuvörderst die Akteure der Gewalt und des Terrors selbst betreffen. Eher unproblematisch sind dabei nach Auffassung des Gerichts zunächst die Fälle der führenden Köpfe und Funktionäre, die allesamt maßgeblichen Einfluss auf die Ziele und die die Organisation prägenden Aktivitäten genommen haben und nehmen, selbst wenn diesen eine Täterschaft oder Teilnahme an bestimmten Einzelaktionen nicht konkret nachgewiesen werden kann. Es sind dies die Fälle, in denen "sich die von der Organisation ausgehenden Gefährdungen in der Person des Ausländers konkretisieren" ( vgl. BVerwG, Urt. v. 31.05.1994 - 1 C 5.93; Urt. v. 30.03.1999 - 9 C 31.98). Im Übrigen handelt sich dabei typischer Weise im Wesentlichen um den Personenkreis, der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine aktive Unterstützung terroristischer Aktivitäten vollbringt und damit aus der Asylgewährleistung herausfällt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86; Beschl. v. 20.12.1989 - 2 BvR 958/86). Bei qualifiziert gewalttätigen terroristischen Gruppierungen beispielsweise, die dann auch regelmäßig in hohem Maße konspirativ und im Untergrund agieren werden, kann es aber nach Maßgabe einer Bewertung aller Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt sein, auch in der "Mitgliedschaft" und - von Bagatellen abgesehen - kontinuierlichen aktiven Mitarbeit bei struktureller Einbindung in die Organisation ein ausreichendes Zurechnungsmoment zu erkennen, weil hier grundsätzlich alle Elemente der Mitarbeit in ihrer Vielzahl und Vielfalt den Zusammenhalt der Organisation und damit dann auch deren Zielverwirklichung fördern bzw. ihr zugute kommen, was dann letztlich auch ihre spezifische Gefährlichkeit ausmacht (vgl. auch UNHCR, Richtlinien zur Anwendung der Ausschlussklauseln, ZAR 2004, 207 Nr. 19). Die beweiskräftige Feststellung einer hervorgehobenen Funktion oder Funktionärstätigkeit ist hier nicht mehr erforderlich und wäre bei einer realistischen Betrachtungsweise einer so beschriebenen Organisation auch lebensfremd. Mit diesem Ergebnis konform geht auch Art. 12 RL 2004/83/EG v. 29.4.2004 (ABl. L 304, 12). Denn nach dessen Absatz 3 findet der Ausschluss auch Anwendung auf Personen, die andere zu den Straftaten und Handlungen im Sinne des Absatzes 2 anstiften oder sich "in sonstiger Weise daran beteiligen". Diese zweite Alternative ist so weit gehalten, dass auch andere als strafrechtlich relevante Beihilfehandlungen zu dem eigentlichen terroristischen Akt erfasst werden. Wo genau die Antragstellerin in das Gefüge der PKK einzuordnen ist, bedarf noch näherer Aufklärung im Hauptsacheverfahren.

Des Weiteren ist in der Rechtsprechung die Frage, ob es anders als bei § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG in den Fällen des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG keiner aus den Umständen des Einzelfalles zu vermutenden fortbestehenden Wiederholungsgefahr bedarf streitig (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 10.3.2006, 10 A 10665/05; VG Bremen, Urt. v. 30.6.2005, 2 K 1611/04.A. bejahend; VG Stuttgart, Beschl. v. 30.5.2005, A 12 K 10786/05 verneinend). Die Beantwortung dieser Frage ist jedoch von entscheidender Bedeutung dafür, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG in Fällen der Abkehr des Schutzsuchenden von terroristischen Aktivitäten oder Unterstützungshandlungen überhaupt erfüllt sind. Insofern kann diese Frage auch nicht offengelassen werden. Dabei stellen sich zahlreiche weitere Fragen etwa zur Beweislast oder zur Art der Beweisführung.

2. Allerdings darf der Antragstellerin selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG die Abschiebung in ihr Herkunftsland nur dann angedroht werden, wenn sie - wie hier unstreitig - keinen Aufenthaltstitel besitzt (§ 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und der Herkunftsstaat nicht als Zielstaat ausgenommen werden muss. Diese Einschränkung liegt aber vor. Wie sich nämlich § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und § 59 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG entnehmen lässt, haben Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zur Folge, dass der angedrohte Zielstaat, die Türkei, in der Abschiebungsandrohung hätte ausgenommen werden müssen.

Hiervon ausgehend ist nach derzeitiger, im Eilverfahren notwendig summarischer Einschätzung, die Gefahr, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr in die Türkei im Rahmen einer Festnahme gefoltert bzw. sonst unmenschlicher Behandlung unterworfen wird, jedenfalls nicht auszuschließen.

Dabei ist die Kammer in ständiger Rechtsprechung bislang davon ausgegangen, dass die Rückkehrkontrollen regelmäßig dann zu einer umfassenden Überprüfung führen, wenn sich aus den von dem Rückkehrer mitgeführten Unterlagen ergibt, dass es sich bei ihm offenbar um einen Asylbewerber handelt, der nicht nur kurdischer Volkszugehörigkeit ist, sondern wegen prokurdischer Aktivitäten gesucht wird. Im Zusammenhang mit den Rückfragen bei den Heimatbehörden spielen demgemäß die dort regional geführten Suchlisten und anderweitig vorgegebenen Erkenntnisse eine wesentliche Rolle. Ist der Betroffene in ihnen vermerkt oder besteht sonst ein Interesse an seiner Person, weil etwa inzwischen gegen ihn anlässlich oder nach seiner Ausreise Verdachtsmomente bezüglich eines prokurdischen Engagements aufgetreten sind, die noch fortbestehen oder aus Anlass der Rückkehr wiederaufleben, so wird er auf entsprechendes Ersuchen festgenommen, weiter verhört und schließlich gegebenenfalls den Behörden in seinem Heimatort überstellt, wobei es bei allen diesen Maßnahmen immer wieder zu schwerwiegenden Übergriffen bis hin zu Misshandlungen und Folterungen kommen kann.

Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die türkische Regierung und das türkische Parlament in der letzten Zeit ganz erhebliche Reformanstrengungen auch hinsichtlich der Menschenrechtslage allgemein sowie hinsichtlich der kurdischen Bevölkerung im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union unternommen haben.

Der danach nötige allgemeine gesellschaftliche Bewusstseinswandel und eine dementsprechende Praxis sind noch nicht in einer Weise eingetreten, die es rechtfertigen würden, eine nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage anzunehmen. Erforderlich hierfür ist vielmehr, dass sich die Gesellschaft in der Türkei "zivilisiert", das heißt die Macht von Militär und Geheimpolizei bricht und ein Eigenleben der Verwaltung insbesondere auch vor Ort weitgehend beseitigt. Dafür reicht es allein nicht aus, dass die bloßen Zahlen der Folterfälle zurückgehen, zumal wenn gleichzeitig festzustellen ist, dass Praktiken angewendet werden, die die erlittene Folter nicht sichtbar werden lassen. Auch das Auswärtige Amt geht in seinem Lagebericht davon aus, dass eine der Hauptursachen für das Fortbestehen von Folter und Misshandlung in der noch nicht effizienten Strafverfolgung liegt (vgl. Auswärtiges Amt, a. a. O., Seite 31).

Unter den dargelegten Umständen besteht derzeit noch kein Anlass, die bisherige Rechtsprechung wesentlich zu ändern (vgl. hierzu auch OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 12.3.2004, Az.: 10 A 11952/03). Die Antragstellerin ist auf Grundlage dieser Einschätzung im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei vor Verfolgung nicht hinreichend sicher.