LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.06.2006 - L 9 AS 272/06 ER - asyl.net: M8411
https://www.asyl.net/rsdb/M8411
Leitsatz:

Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund der Bleiberechtsregelung von 1990 haben grundsätzlich Anspruch auf Leistungen nach SGB II; Leistungen nach SGB II können mit Antrag auf einstweilige Anordnung durchgesetzt werden.

 

Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Arbeitssuchende, Asylbewerberleistungsgesetz, Bleiberechtsregelung 1990, Erlasslage, Libanon, Kriegsflüchtlinge, Bürgerkriegsflüchtlinge, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: SGB II § 7 Abs. 1; SGB II § 8 Abs. 2; AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 3; AufenthG § 23 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2
Auszüge:

Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund der Bleiberechtsregelung von 1990 haben grundsätzlich Anspruch auf Leistungen nach SGB II; Leistungen nach SGB II können mit Antrag auf einstweilige Anordnung durchgesetzt werden.

(Leitsatz der Redaktion)

Im Gegensatz zur Rechtsauffassung des Sozialgerichts scheitert der Erlass der begehrten Regelungsanordnungen nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG nicht bereits daran, dass es ungeachtet der materiellen Rechtslage an einem Anordnungsgrund mangelt, weil die Beschwerdeführer ihren Lebensunterhalt durch die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem AsylbLG ausreichend sichern können. Der Senat folgt dieser Auffassung bereits deshalb nicht, weil sich die Beschwerdeführer, soweit sie gegenüber der Beigeladenen Leistungen nach dem AsylbLG beanspruchen würden und antragsgemäß ergehende Bewilligungsbescheide in Bestandskraft erwachsen ließen, weitergehender Ansprüche nach dem SGB II begäben. Im übrigen hat der Senat in seiner bisherigen Spruchpraxis keinen Anlass gesehen, die Höhe der Leistungen nach dem SGB II, die Berechtigten im Wege einstweiliger Anordnung zugesprochen werden können, unter dem prozessrechtlichen Gesichtspunkt des Anordnungsgrundes generell zu beschränken. Er ist vielmehr in Übereinstimmung mit der wohl überwiegenden Zahl der Sozialgerichte davon ausgegangen, dass die Gewährung nach dem SGB II zustehender Leistungen prinzipiell bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in voller Höhe durchgesetzt werden kann, weil diese insgesamt zur Sicherung des Lebensunterhalts erforderlich sind. Dass es im Einzelfall am Anordnungsgrund mangeln kann, wenn sich der Streit der Beteiligten von vornherein auf einen geringen, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verzichtbaren Teilbetrag der zustehenden Leistungen beschränkt, bleibt hiervon unbenommen.

Für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnungen besteht zudem der erforderliche Anordnungsanspruch.

Ihrer Anspruchsberechtigung steht entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin nicht § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II entgegen; ausweislich der Bescheinigungen der Ausländerbehörde der Beigeladenen vom 21. Februar 2006 und der am 20. März 2006 ausgestellten Aufenthaltserlaubnisse haben sie nämlich während des Anspruchszeitraums eine unselbständige Beschäftigung aufnehmen dürfen. Sie sind auch nicht nach § 1 AsylbLG anspruchsberechtigt:

Mit der Änderung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG durch das Gesetz vom 14. März 2005 hat dabei der Gesetzgeber den Kreis der Leistungsberechtigten, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 oder § 24 AufenthG besitzen, erneut auf diejenigen Personen beschränkt, denen eine solche Aufenthaltserlaubnis gerade wegen des Krieges in ihrem Heimatland erteilt worden ist (vgl. Adolph, SGB II, SGB XII, AsylbLG, § 1 AsylbLG Rdnr. 28.29).

Die Beschwerdeführer zu 1) und 2) erfüllen die vorstehend umrissenen Anspruchsvoraussetzungen nach § 1 AsylbLG nicht. Zwar ist ihnen zuletzt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG ausgestellt worden. Grund ihrer Erteilung ist indessen nicht eine kriegerische Auseinandersetzung im Herkunftsland Libanon, sondern ihr seit 1990 unabhängig vom Fortbestand konkreter Abschiebungshindernisse bestehendes Bleiberecht gewesen. Der Aufenthalt der Beschwerdeführer zu 1) und 2) hat nämlich, wie das Ausländeramt der Beigeladenen auf Nachfrage bestätigt hat, seit dessen Inkrafttreten auf dem Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums zur Neuregelung der aufenthaltsrechtlichen Situation von Flüchtlingen in Niedersachsen vom 18. Oktober 1990 beruht. Nach dessen Ziff. 1 sollte aber bei den erfassten Flüchtlingen, unter anderem solchen aus dem Libanon, von der Durchsetzung der Ausreisepflicht nach dem damaligen Ausländergesetz auf Dauer abgesehen werden. Hierzu war ihnen nach Ziff. 2 und 3 der Regelung auch bei Sozialhilfebezug zunächst eine einjährig befristete, mit den für ausländische Arbeitnehmer üblichen Auflagen versehene Aufenthaltserlaubnis auszustellen, die nach Ziff. 10 des Erlasses unter Geltung des neuen Ausländergesetzes, dessen Inkrafttreten zum 1. Januar 1991 bevorstand, nach dessen § 94 Abs. 3 Nr. 3 in Verbindung mit § 99 Abs. 1 als befristete, jedoch in Abweichung von der Regel des § 34 Abs. 2 AuslG (n.F.) ohne Bindung an den Fortbestand der einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe unbeschränkt zu verlängernde Aufenthaltsbefugnis fortgalt.

Von der hiermit antizipierend in Aussicht genommenen Fortgeltung nach § 94 Abs. 3 Nr. 3 AuslG (n.F.) waren gerade auch solche am 1. Januar 1991 vorhandenen Aufenthaltserlaubnisse betroffen, die einem Ausländer oder seinen Familienangehörigen aus humanitären oder politischen Gründen oder wegen eines Abschiebungshindernisses erteilt worden waren. Während § 34 Abs. 2 AuslG (n.F.) grundsätzlich vorschrieb, dass die nach diesem Gesetz aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen sowie zur Wahrung politischer Interessen oder zur Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen erteilten Aufenthaltsbefugnisse (§§ 32, 32 a), nach Wegfall des sie rechtfertigenden Abschiebungshindernisses oder der sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe nicht verlängert werden durften, sah § 99 Abs. 1 AuslG (n.F.) für die gem. § 94 Abs. 3 Nr. 3 AuslG (n.F.) als Aufenthaltsbefugnisse fortgeltenden Aufenthaltserlaubnisse alten Rechts eine Ausnahme vor, indem er eine Verlängerung ohne Bindung an den Fortbestand des ihnen zugrunde liegenden Abschiebungshindernisses zuließ.

Der durch Erlass vom 18. Oktober 1990 verfügte Verzicht auf eine Aufenthaltsbeendigung war hiernach, auch wenn er bei einzelnen Herkunftsländern durch Krieg oder Bürgerkrieg motiviert gewesen sein mag, von Anfang an auf einen Daueraufenthalt gerichtet, der auch bei Wegfall der ihn ursprünglich rechtfertigenden Gründe nicht beendet werden sollte.

Eine Einbeziehung der Beschwerdeführer zu 1) und 2) in den Kreis der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG ist im übrigen auch nach Sinn und Zweck des Gesetzes nicht geboten. Ziel der Regelungen des AsylbLG ist es nach wie vor, die Ansprüche solcher Ausländer zu regeln, denen kein verfestigtes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zukommt (vgl. amtl. Begründung zu § 1 AsylBLG i.d. Ursprungsfassung, BT-Drucks. 12/4451, abgedruckt bei Mergler/Zink, aaO, zu § 1 AsylbLG) und die keine längerfristige Aufenthatsperspektive haben (so amtl. Begr. Zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze, abgedr. Bei Mergler/Zink, aaO, zu § 1 AsylbLG).