OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05.05.2006 - 12 B 9.05 - asyl.net: M8504
https://www.asyl.net/rsdb/M8504
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 für afghanischen Staatsangehörigen, da keine extreme Gefahrenlage in Kabul für gesunde Männer mittleren Alters.

 

Schlagwörter: Afghanistan, hezb-i-islami, Kabul, Kommunisten, DVPA, Khad, Mitglieder, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Kriminalität, Situation bei Rückkehr, Versorgungslage, Wohnraum, RANA-Programm, Flüchtlingslager, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 für afghanischen Staatsangehörigen, da keine extreme Gefahrenlage in Kabul für gesunde Männer mittleren Alters.

(Leitsatz der Redaktion)

Die Beklagte ist nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) nicht verpflichtet, gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen.

Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers die Echtheit des vorgelegten "Haftbefehls" der hezb-i-islami sowie die Richtigkeit seiner Angaben vor dem Senat als wahr unterstellt und dabei offen lässt, ob nur er oder auch die weiteren männlichen Familienangehörigen von den Mudjaheddin mitgenommen worden sind, erlaubt dies die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht.

Führer der hezb-i-islami ist seit langem Golbud-Din Hekmatyar (vgl. Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, S. 91). Dieser kooperiert derzeit mit den Taliban (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 26. August 2005) und soll Stützpunkte in Paktia und Ghazni unterhalten (vgl. etwa Dr. Danesch, Gutachten für das Sächsische OVG vom 24. Juli 2004 [im Folgenden: Danesch 7/2004] S. 11). Dass die hezb-i-islami derzeit in Kabul über maßgeblichen Einfuss verfügt, ist nicht ersichtlich.

Dem Kläger droht in Kabul auch seitens der Regierung oder sonstiger Gruppen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit wegen seiner Familienzugehörigkeit oder früheren Tätigkeiten.

Zwar kann nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. November 2005 (S. 21; im Folgenden: Lagebericht 11/2005) eine Verfolgung herausragender ehemaliger kommunistischer Militärs, Polizeirepräsentanten und Mitarbeiter des Geheimdienstes Khad durch Private, aber auch durch Regierungsvertreter oder gegenwärtige Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter nicht ausgeschlossen werden. Die Zentralregierung verfüge über keine hinreichenden Schutzmöglichkeiten. Einfachen früheren Mitgliedern der DVPA, die sich keiner Menschenrechtsverletzung schuldig gemacht haben und nicht deshalb Rache fürchten müssen, droht jedoch heute eine Verfolgung nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. etwa Deutsches Orientinstitut, Gutachten für das Sächsische OVG vom 23. September 2004 [im Folgenden: Dt. Orientinstitut 9/2004] S. 11; Lagebericht 9/2005 S. 21; auch Dr. Danesch leitet eine fortbestehende Gefahr für ehemalige Mitglieder der DVPA vor allem aus ihrer früheren Bedeutung, Bekanntheit und Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen ab: Danesch 7/2004 S. 36 ff.; vgl. aus der Rspr. etwa Hess. VGH, Urteil vom 11. November 2004 - 8 UE 2759/01.A S. 10 f.).

1. Eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt vor, wenn ein Missstand im Abschiebezielstaat die Bevölkerung insgesamt oder eine Bevölkerungsgruppe so trifft, dass grundsätzlich jedem, der der Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe angehört, deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht. Ist die von der allgemeinen Gefahr betroffene Gruppe so groß und die Gefahr von solcher Art, dass es einer politischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedarf, greift die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ein (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 49, S. 71, 74 zur entsprechenden Rechtslage nach §§ 53 Abs. 6, 54 AuslG). Individuelle Gefährdungen des Ausländers, die sich aus einer allgemeinen Gefahr in diesem Sinne ergeben, können auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie - auch - durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber gleichwohl insgesamt nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage sind (BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 9 C 4/98, BVerwGE 108, 77, 82).

Es lässt sich nicht feststellen, dass dem Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan landesweit, insbesondere auch in Kabul, unmittelbar mit hoher Wahrscheinlichkeit extreme Gefahren für Leib und Leben drohen.

a) Die Sicherheitslage in Kabul rechtfertigt die Annahme einer mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar drohenden Gefahr für Leib oder Leben des Klägers nicht.

Die Kriminalitätsrate ist nach verschiedenen übereinstimmenden Auskünften hoch. Danach kommt es regelmäßig zu Morden, Raubüberfällen, Entführungen und Erpressungen, von denen insbesondere auch aus dem Westen zurückkehrende Flüchtlinge betroffen sein können, bei denen Geld vermutet wird. Die afghanischen Polizei- und Sicherheitskräfte bieten kaum ausreichenden Schutz; sie sind in manchen Fällen selbst Täter oder schützen diese zumindest und sind - aufgrund ihres geringen Einkommens - in hohem Maße korrupt. Effektiver Rechtsschutz fehlt (vgl. zum Ganzen etwa Lagebericht 11/2005, S. 14 f.; Danesch 7/2004, S. 23 f.; SFH 212006, S. 4; Bericht des Informationsverbundes Asyl e.V./ Pro Asyl, Rückkehr nach Afghanistan, Bericht über eine Untersuchung in Afghanistan von März bis Juni 2005 [im Folgenden: Pro Asyl 6/2005], S.5 ff.).

Die Bewertung dieser Umstände erlaubt zur Überzeugung des Senats nicht den Schluss, prinzipiell jeder aus Westeuropa zurückkehrende Flüchtling habe mit der für eine verfassungskonforme Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit zu erwarten, in Kabul alsbald Opfer eines lebensbedrohlichen kriminellen Übergriffs zu werden (so auch OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 5. April 2006 - 20 A 5161/04.A -, UA S. 14). Zwar geht der Senat unter Berücksichtigung verschiedener Auskünfte davon aus, dass die Kriminalität in Afghanistan und insbesondere in Kabul entgegen der Einschätzung des Zeugen David ein weitaus erheblicheres Problem für die Bevölkerung darstellt, als dies in deutschen Großstädten der Fall ist. Andererseits lässt sich jedoch aus den verfügbaren Erkenntnismitteln nicht folgern, jeder - aus Westeuropa - zurückkehrende Flüchtling werde mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald Opfer eines gegen ihn verübten Gewaltdelikts werden.

b) Auch die Versorgungslage in Kabul rechtfertigt jedenfalls für gesunde Männer im Alter des 1970 oder 1971 geborenen Klägers keine Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG.

Allerdings bestehen staatliche soziale Sicherungssysteme in Afghanistan nicht. Die notwendige soziale Absicherung wird durch Familien und Stämme übernommen; fehlt es an solchen Strukturen, ist die Situation für Rückkehrer schwierig (vgl. etwa Lagebericht 11/2005, S. 32; SFH 2/2006, S. 9). Für die Pflege von Kranken und die Betreuung von Frauen und Kindern werden sie darüber hinaus als überlebensnotwendig dargestellt (so Pro Asyl 6/2005, S. 20). Im Einzelnen:

aa) Die Versorgung mit Wohnraum ist nach übereinstimmenden Auskünften unzureichend (vgl. nur Lagebericht 11/2005, S. 31).

Der Zeuge Dr. Danesch hat in der mündlichen Verhandlung am 5. Mai 2006 zwar keine konkrete Zahl derer genannt, die in Flüchtlingslagern oder Ruinen leben müssen, wohl aber geäußert, bei einer von ihm angenommenen Einwohnerzahl von etwa 4,5 bis 5 Millionen lebten "Millionen Menschen" in "slumartigen Vorstädten", in denen die Unterbringung noch weit schlechter sei als die in einem Aufnahmewohnheim des UNHCR. Der Zeuge muss sich insoweit entgegenhalten lassen, dass er die Wohnsituation in den Vorstädten Kabuls weder in seinem Gutachten vom 13. Januar 2006 noch in demjenigen vom 25. Januar 2006 für das Verwaltungsgericht Hamburg (im Folgenden: Danesch vom 25.01.2006) problematisiert hat. In beiden Gutachten geht er zur Beschreibung der "katastrophalen" Wohnsituation in Kabul eingehend auf das Flüchtlingslager an der Taimani-Straße und das sog. Flüchtlingslager "Camp-e Wabika" ein, erwähnt jedoch die Wohnsituation in den Vorstädten nicht, obwohl hiervon weit mehr Personen betroffen sein müssten. Erstgenanntes Flüchtlingslager wird - neben einem weiteren - auch von genannter Reisedelegation beschrieben (Pro Asyl 6/2005, S. 5, 7, 14, 16 f.). Auch dort wird die Wohnsituation in den Vorstädten nicht problematisiert. Nach Allem lässt sich nicht feststellen, dass ein Großteil der Bevölkerung Kabuls ("Millionen Menschen") in Wohnverhältnissen lebt, die eine extreme Gefahr für Leib und Leben der Bewohner in sich bergen.

Hinzukommt, dass der Kläger ausweislich seiner und seines Vaters Angaben im Asylverfahren einer wohlhabenden Familie aus Kandahar entstammt, die auch in Kabul über einflussreiche Kontakte verfügt haben muss.

Auch beide vom Senat gehörten sachverständigen Zeugen unterscheiden zwischen den aus Iran und Pakistan einerseits und den aus sonstigen Ländern andererseits zurückkehrenden Flüchtlingen: Nach den Angaben des Zeugen David in der mündlichen Verhandlung vom 27. März 2006 und der schriftlichen Mitteilung der IOM gegenüber dem Senat vom 13. April 2006 können Flüchtlinge, die bis zum 15. August 2006 nach Kabul abgeschoben werden, im Rahmen des RANA-Programms jedenfalls für eine Übergangszeit von - grundsätzlich - bis zu zwei Wochen im Übergangswohnheim auf dem Gelände des Flüchtlingsministeriums Unterkunft finden und mit den nötigsten Lebensmitteln versorgt werden. Dem steht nicht entgegen, dass die Identifikation von Rückkehrern und ihre Begleitung bei der Einreise nur freiwilligen Rückkehrern angeboten werden, wie der Kläger unter Bezugnahme auf ein Informationsblatt von IOM vorträgt. Der Kläger hat Kenntnis von diesem Programm. Es ist ihm zuzumuten, das in Kabul ansässige Büro von IOM über seine Ankunft zu unterrichten. Selbst wenn er entgegen den Angaben des Zeugen David nicht bereits am Flughafen von den Mitarbeitern von IOM in Empfang genommen werden könnte, liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es ihm unmöglich wäre, das auf dem Gelände des Flüchtlingsministeriums in Kabul befindliche Wohnheim zu erreichen. Der Preis für ein Taxi vom Flughafen Kabul in die Innenstadt beläuft sich nach den Angaben des sachverständigen Zeugen Dr. Danesch in der mündlichen Verhandlung vom 5. Mai 2006 auf etwa $ 8. Der Betrag wird den Rückkehrern nach Auskunft dieses Zeugen von IOM erstattet. Ob nach dem Auslaufen des Programms im August 2006 ein Folgeprogramm aufgelegt wird, steht nach der genannten schriftlichen Auskunft von IOM allerdings noch nicht fest.

Letztlich bedarf keiner weiteren Aufklärung, ob der Kläger in genannter Einrichtung - ggf. auch noch nach dem 15. August 2006 - vorübergehend Aufnahme finden kann. Selbst wenn er im Falle seiner Abschiebung nach Kabul entgegen der Einschätzung des Senats darauf angewiesen sein sollte, zumindest vorübergehend in einem der genannten Flüchtlingslager Unterkunft zu finden, lässt sich nicht feststellen, dass er mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahr ausgesetzt wäre. Zwar liegen Berichte vor, nach denen in den Wintermonaten wegen mangelnder Heizmöglichkeiten in den Flüchtlingslagern Frauen, Kinder und alte Menschen sterben mussten (Pro Asyl 6/2005, S. 16); der Kläger gehört als gesunder Mann mittleren Alters jedoch nicht zu diesem Personenkreis.

bb) Es lässt sich auch nicht feststellen, dass der Kläger im Falle seiner Abschiebung nach Afghanistan mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert sein würde.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern ist in Kabul grundsätzlich gewährleistet (vgl. Lagebericht 11/2005, S. 31; Dt. Orientinstitut 9/2004, S. 15).

cc) Schließlich rechtfertigt auch die medizinische Versorgung der Bevölkerung Afghanistans nicht die Feststellung, der Kläger werde im Falle der Rückkehr alsbald mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine lebensbedrohliche Lage kommen.

Allerdings ist nach übereinstimmenden Auskünften verschiedener Stellen die private wie öffentliche medizinische Versorgung noch unzureichend (vgl. etwa Lagebericht 11/2005, S. 31; SFH 2/2006, S. 11; Pro Asyl 2005, S. 8 und 22; Danesch 7/2004, S. 43 ff.; Danesch 1/2006, S. 25 ff.). Den Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums zufolge werde ein Schwerpunkt auf die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung gelegt, die in 77 % des Landes verfügbar sein soll, was indes von anderen Quellen bestritten werde; nach Angaben der WHO konzentriere sich ein Drittel des medizinischen Fachpersonals in der Provinz Kabul (so die Mitteilung der Schweizer Flüchtlingshilfe, SFH 2/2006, S. 11). Nach Auskunft der Delegation, die im Frühjahr 2005 das Land bereiste, können in den Krankenhäusern jedenfalls "einfache Krankheiten eines sonst normal Gesunden" behandelt werden (Pro Asyl 6/2005, S. 8). Nach Auskunft des vom Senat vernommenen Zeugen David bestehen in Kabul mit wenigen Ausnahmen nahezu alle Behandlungsmöglichkeiten.

Die Behandlung in öffentlichen Krankenhäusern ist grundsätzlich kostenlos; allerdings müssen Medikamente vom Patienten selbst beschafft und sowohl Ärzte als auch sonstiges Krankenhauspersonal aufgrund ihres unzureichenden Einkommens zusätzlich vom Patienten "entlohnt" werden (vgl. etwa Pro Asyl, a.a.O. sowie die Angaben der vernommenen Zeugen).

Der im Jahre 1970 bzw. 1971 geborene Kläger ist mangels gegenteiliger Anhaltspunkte gesund, also auf eine regelmäßige ärztliche oder medikamentöse Behandlung nicht angewiesen.

dd) Nach allem lässt sich bei wertender Gesamtschau der maßgeblichen Gefährdungskriterien (hierzu BVerwG, Beschluss vom 4. Februar 2004 - 1 B 291.03 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 75 S. 123, 124) nicht feststellen, dass auch gesunde Männer mittleren Alters bei ihrer Abschiebung nach Kabul mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt sind (so auch OVG Münster, Urteil vom 5. April 2006 - 20 A 5161104.A - S. 9 ff. UA;; OVG Hamburg, Urteil vom 11. April 2003 - 1 Bf 104/01.A - zit. nach juris S. 4 f.).