Tschetschenen aus müssen sich zur Erlangung eines neuen Inlandspasses nur wenige Tage in Tschetschenien aufhalten; sie können sich außerhalb Tschetscheniens in anderen Teilen Russlands registrieren lassen und eine Wohnung mieten; sie sind dabei hinreichend sicher vor rassistischen Übergriffen.
Tschetschenen aus müssen sich zur Erlangung eines neuen Inlandspasses nur wenige Tage in Tschetschenien aufhalten; sie können sich außerhalb Tschetscheniens in anderen Teilen Russlands registrieren lassen und eine Wohnung mieten; sie sind dabei hinreichend sicher vor rassistischen Übergriffen.
(Leitsatz der Redaktion)
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Auf der Grundlage der bei Erlass des vorliegenden Urteils bestehenden tatsächlichen Gegebenheiten (vgl. zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) besitzt die Beigeladene keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG (bzw. ehedem § 51 Abs. 1 AuslG).
Auch wenn alles dafür spricht, dass die Beigeladene die Russische Föderation unverfolgt verlassen hat, weil es bis zu ihrer Ausreise weder zu asylrechtlich relevanten Übergriffen auf ihre Person gekommen ist noch solche Maßnahmen konkret bevorstanden und sie vor einer Verfolgung, die Tschetschenen bzw. einem Teil dieser Volksgruppe seinerzeit ggf. kollektiv drohte (verneinend mit beachtlichen Gründen ThürOVG vom 16.12.2004 Az. 3 KO 1003104, zit. nach Juris), an ihrem damaligen Aufenthaltsort in Inguschetien hinreichend sicher war, kann diese Frage vorliegend auf sich beruhen. Ebenfalls dahinstehen kann, ob sie heute politische Verfolgung aufgrund von Gegebenheiten zu befürchten hat, die erst nach ihrer Ausreise entstanden sind. Doch selbst wenn das zu bejahen sein sollte und die Frage, ob die Beigeladene heute einen Schutzanspruch nach § 60 Abs. 1 AufenthG besitzt, deshalb anhand des herabgestuften Prognosemaßstabs zu beantworten wäre (hiervon geht der Verwaltungsgerichtshof nachfolgend zu ihren Gunsten aus), wäre sie jedenfalls in den weitaus meisten Teilen der Russischen Föderation vor politischer Verfolgung hinreichend sicher.
a) Bei ihrer (freiwilligen oder erzwungenen) Rückkehr nach Russland hätte die Beigeladene asylrechtlich relevante Übergriffe nicht bereits im Zusammenhang mit der Einreise zu befürchten.
b) Nach der Einreise wird die Beigeladene - allerdings nur wenige Tage lang - Grosny aufsuchen müssen, um sich dort einen neuen Inlandspass zu besorgen.
Einen neuen Inlandspass muss sie bei dem Meldeamt beantragen, bei dem sie bisher registriert ist (vgl. Nr. 4 des Schreibens des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Berlin vom 22.11.2005).
Die Notwendigkeit, zwecks Erlangung eines neuen Inlandspasses Tschetschenien aufzusuchen, besteht allerdings nur für wenige Tage. Denn der Erlass Nr. 828 sieht für dieses Verwaltungsgeschäft eine maximale Bearbeitungsdauer von zehn Tagen vor (Nr. 3 des Schreibens des Auswärtigen Amtes an den Bayer. Verwaltungsgerichtshof vom 3.3.2006). Auskünften der Pass- und Visaverwaltung der Tschetschenischen Republik in Grosny zufolge wird diese Frist auch in Tschetschenien in der Regel eingehalten (Nr. 3 des Schreibens des Auswärtigen Amtes an den Bayer. Verwaltungsgerichtshof vom 3.3.2006). Bei noch notwendigen Rückfragen kann die Ausstellung allerdings bis zu einem Monat dauern. In diesen Fällen kann dem Antragsteller jedoch ein vorübergehender Ausweis ausgestellt werden, so dass er Tschetschenien in Richtung auf seinen aktuellen Wohnort verlassen kann und er nur zur Passübergabe nochmals anreisen muss (vgl. auch dazu Nr. 3 des Schreibens des Auswärtigen Amtes an den Bayer. Verwaltungsgerichtshof vom 3.3.2006).
Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Beigeladene einen Inlandspass innerhalb der normativ innerhalb der normativ vorgegebenen Zehn-Tages-Frist erhalten kann.
Das Risiko, dass die Beigeladene an den beiden Tagen, an denen sie sich notwendig nach Tschetschenien begeben muss, politischer Verfolgung ausgesetzt sein wird, ist derart gering, dass nicht von einer "realen" Gefahr für sie gesprochen werden kann, die nach dem eingangs Gesagten der Bejahung "hinreichender Sicherheit" entgegenstünde.
Der Beigeladenen wird es auch möglich sein, Tschetschenien oder eine nahe gelegene Region zum Zwecke der Ausstellung eines neuen Inlandspasses zu erreichen. Sofern sie bereit ist, die Bundesrepublik Deutschland nach bestandskräftigem Abschluss ihres asylrechtlichen Verfahrens freiwillig zu verlassen, kann sie Rückkehrhilfen nach dem REAG-/GARP-Programm in Anspruch nehmen.
c) Sofern sich die Beigeladene nach dem Erhalt eines neuen Inlandspasses in einem anderen Teil der Russischen Föderation als im Nordkaukasus niederlassen will, muss ein solches Vorhaben nicht daran scheitern, dass es für Tschetschenen schwierig ist, außerhalb Tschetscheniens eine Wohnung anzumieten. Zwar weigern sich nach Darstellung von Frau Gannuschkina (vgl. S. 2 ihres Schreibens an den Bayer. Verwaltungsgerichtshof vom 27.6.2005) Vermieter häufig aus Angst vor Unannehmlichkeiten, Wohnungen an Tschetschenen zu vermieten; auch würden sie häufig seitens der Milizinspektoren mit dem Ziel bedroht, Mietverträge zu kündigen (S. 48 der Ausarbeitung "Zur Situation der Bürger Tschetscheniens in der Russischen Föderation Juni 2004 - Juni 2005"). Andererseits darf nicht verkannt werden, dass die verbreitete Unwilligkeit von Vermietern, diejenigen Vordrucke auszufüllen, die ein Mieter benötigt, um sich registrieren zu lassen, darauf beruht, dass Vermieter Mieteinnahmen nicht versteuern wollen; es handelt sich hierbei um ein generelles, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit des Mieters auftretendes Problem (Abschnitt 11.5 des Lageberichts vom 15.2.2006).
Ungeachtet dieser Schwierigkeiten steht außer Zweifel, dass Tschetschenen auch außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation Wohnraum finden können. Denn nach Darstellung im Lagebericht vom 15. Februar 2006 (S. 16) leben allein in Moskau 200.000 und in der Wolgaregion 50.000 Tschetschenen; die Gesellschaft für bedrohte Völker spricht in Abschnitt 4.5.2 ihrer Ausarbeitung "Schleichender Völkermord in Tschetschenien" von etwa 10.000 Tschetschenen, die sich in der Region Rostow "als Flüchtlinge" (d.h. nicht als Personen, die sich bereits vor langer Zeit dort niedergelassen haben) aufhalten. Da nicht angenommen werden kann, dass auch nur der größte Teil dieser Personen über Wohnungseigentum verfügt, muss es vielen Tschetschenen gelingen, ein Mietverhältnis zu begründen.
d) Sobald die Beigeladene über einen Inlandspass und Wohnraum verfügt, hat sie die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, um sich am Ort ihrer Niederlassung registrieren zu lassen (vgl. auch dazu S. 27 des Lageberichts vom 15.2.2006). Hierauf besteht ein Rechtsanspruch; Ablehnungsgründe sieht die russische Rechtsordnung nicht vor (vgl. S. 1 unten des Schreiben von Frau Gannuschkina an den Bayer. Verwaltungsgerichtshof vom 27.6.2005). Insbesondere wurde das "Propiska"-System, das eine Gestattung oder Verweigerung des Zuzugs durch die Behörden ermöglichte, bereits 1991 (so Amnesty International in Abschnitt 1.1 des Schreibens an den Bayer. Verwaltungsgerichtshof vom 16.4.2004) bzw. 1993 (so der Lagebericht vom 15.2.2006, S. 26 unten) abgeschafft.
Dessen ungeachtet wird die legale Niederlassung von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation an vielen Orten durch Verwaltungsvorschriften oder -praktiken stark erschwert (Lagebericht vom 15.2.2006, S. 26).
Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit anti-kaukasischen Stimmungen stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal an einem Ort ihrer Wahl niederzulassen (Lagebericht vom 15.2.2006, ebenda).
Diese - rechtswidrigen - Restriktionen werden indes nicht in allen Landesteilen gleichermaßen angewandt. Vor allem in Südrussland ist eine Registrierung leichter möglich als z.B. in Moskau (Lagebericht vom 15.2.2006, S. 28).
Gelingt es aber Tschetschenen - wenn auch ggf. nur nach Inanspruchnahme der Hilfe von Menschenrechtsorganisationen, der Einschaltung von Abgeordneten und nach Anrufung von Gerichten - sogar in Moskau und in St. Petersburg (d.h. in den Städten, in denen nach übereinstimmender Darstellung aller Quellen die illegalen Zuzugsbeschränkungen am rigidesten angewandt werden) eine Anmeldung zu erhalten, so muss das für Regionen, in denen nur geringere Schwierigkeiten zu bewältigen sind, erst recht gelten.
Anhaltspunkte dafür, dass der nicht registrierte Teil der tschetschenischen Binnenflüchtlinge eine Legalisierung seines Aufenthalts schlechthin nicht zu erreichen vermochte, ergeben sich aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht. In den Fallschilderungen, die mit der Feststellung abbrechen, Tschetschenen sei die Registrierung verweigert worden, fehlt praktisch durchgängig eine Aussage darüber, ob der Betroffene gebührliche Anstrengungen unternommen hat, um den Status der Illegalität zu vermeiden bzw. zu beenden.
e) Auch während der Zeit, die bis zum Erhalt einer Registrierung u. U. verstreichen kann (sie beläuft sich ausweislich der vorstehend dargestellten Fallbeispiele bei frühzeitiger Inanspruchnahme geeigneten Beistands im ungünstigsten Fall auf einige Monate), ist die Beigeladene vor politischer Verfolgung hinreichend sicher. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang namentlich, dass nach der Entscheidung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 825 vom 22. Dezember 2004 Bürger dieses Landes (also auch die Beigeladene und ihre Tochter) bei Aufenthalten von bis zu 90 Tagen keine Registrierung benötigen (S. 1 des Schreibens von Frau Gannuschkina an den Bayer. Verwaltungsgerichtshof vom 27.6.2005).
f) Die Beigeladene muss nicht befürchten, vor oder nach der Begründung einer Niederlassung an einem selbst gewählten Ort in der Russischen Föderation gegen ihren Willen nach Tschetschenien verbracht zu werden.
h) Fälle, in denen russische Sicherheitsbehörden missliebigen Personen Beweismittel unterschoben, um so gegen sie einen strafrechtlich relevanten Verdacht zu konstruieren, waren nach der - in sich nicht ganz widerspruchsfreien - Darstellung von "Memorial" bereits bei der Abfassung der Ausarbeitung "Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation Juni 2003 - Mai 2004" seltener geworden; sie würden nicht mehr in größerem Stil praktiziert (vgl. S. 48 und S. 60 dieser Ausarbeitung), auch wenn es nach wie vor "viele derartige Fälle" gebe (so die Darstellung auf S. 60 dieser Unterlage).
j) Die Beigeladene wäre jedenfalls bei einer Niederlassung außerhalb der vorerwähnten fünf "Problemregionen" ferner vor Übergriffen gesellschaftlicher Kräfte hinreichend sicher, die sich der russische Staat nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG dann zurechnen lassen müsste, falls er nicht willens oder nicht in der Lage wäre, den Betroffenen vor solchen Angriffen Schutz zu bieten. Die im Urteil vom 31. Januar 2005 (a.a.O., S. 30 f.) getroffene Feststellung, dass rassistisch motivierte Vorfälle, gemessen an der Bevölkerungszahl der Russischen Föderation, nicht nur nicht mit signifikanter Häufigkeit zu verzeichnen sind, sondern dass es zum weitaus überwiegenden Teil Angehörige anderer Volksgruppen als Tschetschenen - namentlich Schwarzafrikaner, Asiaten mit mongolischem Erscheinungsbild. Menschen aus dem indischen Kulturkreis sowie andere Kaukasier als Tschetschenen - sind, die in der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus nichtstaatlicher Gewalt zum Opfer fallen, hat sich angesichts der seit jener Entscheidung neu hinzugekommenen Erkenntnisse uneingeschränkt bestätigt.
k) Der Beigeladenen drohen in der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien, Inguschetien, Kabardino-Balkarien sowie der Regionen Krasnodar und Stawropol ferner keine Nachteile und Gefahren, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylrelevanten Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen; zumindest würden etwaige existentielle Gefährdungen an ihrem Herkunftsort Grosny in gleicher Weise bestehen.