VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 29.06.2006 - AN 9 K 04.32295 - asyl.net: M8618
https://www.asyl.net/rsdb/M8618
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Ermessen, Rückwirkung, Übergangsregelung, Machtwechsel, zwingende Gründe, allgemeine Gefahr, Anerkennungsrichtlinie, interne Fluchtalternative, Krankheit, medizinische Versorgung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AsylVfG § 73 Abs. 3; GFK Art. 1 C Nr. 5 S. 2; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 9. November 2004 ist, soweit es sich nicht um ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Irak handelt (vgl. Ausführungen unter II) nicht rechtswidrig, er verletzt die Klägerseite nicht in ihren Rechten (§ 113 VwGO).

1. Gemäß § 73 Abs. 1 AsylVfG (auch in der seit 1.1.2005 geltenden Neufassung durch das Zuwanderungsgesetz, die hier gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG anzuwenden ist) muss bzw. - im Falle des § 73 Abs. 2a AsylVfG - kann das Bundesamt die etwaige vorangegangene Asylanerkennung eines Ausländers sowie eine etwaige vorangegangene Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des so genannten "kleinen Asyls" (früher § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG) widerrufen, wenn die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen.

1.1 § 73 Abs. 2a AsylVfG steht der Rechtmäßigkeit der hier streitgegenständlichen, im Jahr 2005 getroffenen Widerrufsentscheidung jedoch nicht entgegen. Da § 73 Abs. 2a AsylVfG am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist und sich keine Rückwirkung beigemessen hat, konnte die in § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG enthaltene Drei-Jahres-Frist erst mit dem 1. Januar 2005 zu laufen beginnen.

1.2 Gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG muss das Bundesamt auch die etwa vorangegangene Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen im Sinne der früher geltenden Bestimmung des § 53 Abs. 1, 2, 4 oder 6 AuslG bzw. nunmehr die etwa vorangegangene Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG widerrufen, wenn die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen.

2. Eine entscheidungserhebliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse im Irak liegt vor. Der sich aus den allgemein zugänglichen Medien und den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen (vgl. insbesondere den in das Verfahren eingeführten aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes) ergebende Sturz des Regimes von Saddam Hussein stellt genau einen solchen politischen Systemwechsel dar, wie ihn das Bundesverwaltungsgericht in seiner vorgenannten Entscheidung angesprochen hat. Durch diesen politischen Systemwechsel im Irak ist jedenfalls die früher vom Regime Saddam Hussein ausgehende Gefahr unmittelbarer oder mittelbarer politischer Verfolgung nunmehr eindeutig landesweit entfallen (so auch etwa BVerwG, Urteil vom 25.8.2004, Az. 1 C 22/03, juris Nr. WBRE 410011104; BayVGH, Beschluss vom 24.11.2004, Az. 13a 04.30969).

3. Dem Widerruf steht auch nicht § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG oder Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 GK entgegen.

Soweit die Genfer Flüchtlingskonvention in der Auslegung der Klägerseite bzw. des UNHCR als Voraussetzung für eine Widerrufsentscheidung verlangt, dass bei Rückkehr des betreffenden Flüchtlings in den Irak dort nunmehr nicht nur Schutz vor politischer Verfolgung, sondern auch Schutz vor allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit besteht, darüber hinaus eventuell sogar die Existenz eines funktionierenden Rechtsstaates und eine angemessene Infrastruktur, wird hierdurch lediglich ein politisches Ziel angesprochen, nicht jedoch die nach § 73 Abs. 1 AsylVfG maßgebliche Rechtslage wiedergegeben (BayVGH, Beschluss vom 22.10.2004 - 15 ZB 04.30656).

4. Auch unter Berücksichtigung der - ebenfalls allgemeinkundigen, im Übrigen aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen ersichtlichen - schlechten allgemeinen Sicherheitslage im Irak ist, auch unter Berücksichtigung von § 60 AufenthG, dort insbesondere Abs. 7 Satz 1, keine anders lautende Entscheidung veranlasst. Es sind keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte dafür vorgetragen und ersichtlich, dass die Klägerseite bzw. schlechterdings jeder in sein Heimatland zurückkehrende Iraker geradezu zwangsläufig mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer von Übergriffen wird, seien diese dem irakischen Staat zurechenbar oder auch Privatpersonen oder privaten bzw. jedenfalls nichtstaatlichen Organisationen, gleichgültig, ob diese sich politisch, stammesmäßig oder familiär definieren.

Die Klage der Kläger ist hingegen begründet, soweit sie im Hinblick auf die von ihnen genannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich des Irak geltend gemacht haben. Nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung im Sinne des § 77 Abs. 1 AsylVfG geht das Gericht davon aus, dass bei den Klägern die von ihnen im Einzelnen dargelegten und belegten gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen tatsächlich bestehen. Dies wurde auch von Beklagtenseite nicht konkret und substantiiert in Zweifel gezogen. Auf Grund der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen (vgl. hier insbesondere auch den Lagebericht Irak des Auswärtigen Amtes vom 24.11.2005, Seite 28) geht das Gericht davon aus, dass bei der gegenwärtig sehr angespannten medizinischen Versorgungssituation im Irak eine hinreichende Versorgung der Kläger mit Medikamenten und Behandlungen nicht zu erwarten ist, so dass den Klägern bei Rückkehr in den Irak gegenwärtig und auf absehbare Zukunft eine gravierende Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation drohen würde bzw. sogar Lebensgefahr bestehen würde.