VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 27.06.2006 - 6 K 4240/05 - asyl.net: M8708
https://www.asyl.net/rsdb/M8708
Leitsatz:
Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Widerruf, Jahresfrist, Fristbeginn, Ermessen, Ausweisungsgründe, Verbrauch, Vertrauensschutz, Zuwanderungsgesetz, Übertragung, Aufenthaltstitel, unbefristete Aufenthaltserlaubnis
Normen: AufenthG § 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; VwVfG § 49 Abs. 2 S. 2; VwVfG § 48 Abs. 4; AufenthG § 101 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Verfügung der Beklagten vom 26.08.2005 sowie der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 02.11.2005 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Allerdings war die Beklagte nicht schon auf Grund von § 49 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG i.V.m. § 48 Abs. 4 LVwVfG daran gehindert, die unbefristete Aufenthaltserlaubnis bzw. Niederlassungserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zu widerrufen. Die Beklagte hat nämlich die gesetzliche Jahresfrist eingehalten. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.12.1999 - 7 C 42/98 -, NJW 2000, 1512 kommt es für den Beginn der Jahresfrist auf die Kenntnis der für die Rücknahme zuständigen Behörde an. Das erkennende Gericht schließt sich dieser Rechtsprechung an, die nicht nur für die Rücknahme, sondern auch für den Widerruf eines Verwaltungsakts entsprechend gilt und auch ohne Weiteres auf das LVwVfG übertragen werden kann. Wie das Regierungspräsidium im Widerspruchsbescheid zutreffend ausführt, hat die Beklagte aber frühestens am 26.10.2004 von den für den Widerruf maßgebenden Tatsachen Kenntnis erhalten. Dies bedeutet, dass die Verfügung vom 26.08.2005 innerhalb der Jahresfrist erlassen wurde.

Die Verfügung vom 26.08.2005 leidet jedoch an einem Ermessensfehler, der durch den Widerspruchsbescheid vom 02.11.2005 nicht geheilt worden ist (§ 114 Satz 1 VwGO). Die Beklagte hat bei der Ausübung des ihr von § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG eingeräumten Ermessens maßgeblich zu Grunde gelegt, dass ein Ausweisungsgrund bestehe. Auch der Widerspruchsbescheid geht hiervon als maßgebender Erwägung aus. Dies trifft aber deshalb nicht zu, weil die durch Urteile des Amtsgerichts Stuttgart vom XX.XX.2001 und des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom XX.XX.2003 abgeurteilten Straftaten durch die dem Kläger am 24.06.2005 erteilte Niederlassungserlaubnis "verbraucht" worden waren, so dass sie für den Widerruf nicht mehr berücksichtigt werden konnten.

Nach der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg (vgl. Beschl. vom 25.02.2002 - 11 S 160/01 -, InfAuslR 2002, 233 und Beschl. vom 17.10.1996 - 13 S 1279/96 -, InfAuslR 1997, 111), der das erkennende Gericht folgt, kann eine Ausweisung aus Gründen des Vertrauensschutzes in der Regel nicht mehr auf solche Tatbestände gestützt werden, in deren Kenntnis die Ausländerbehörde zuvor vorbehaltlos eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hat. Diese Rechtsprechung muss auch für den Fall gelten, dass es nicht um die Ausweisung selbst geht, sondern darum, ob bei einer Widerrufsverfügung Ausweisungsgründe berücksichtigt werden dürfen.

Entgegen der Ansicht der Beklagten liegt hier ein Fall des "Verbrauchs" der Ausweisungsgründe vor. Die Beklagte hat in vollständiger Kenntnis der ergangenen Strafurteile die unbefristete Aufenthaltserlaubnis des Klägers am 24.06.2005 nicht nur als Niederlassungserlaubnis in den Reiseausweis des Klägers übertragen, sondern sie hat die Gründe für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis neu geprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass diese erteilt werden kann. Hieran ändert auch der Vermerk im Reiseausweis "Übertrag nach § 101 AufenthG" nichts. § 101 AufenthG leitet den bisherigen Aufenthaltstitel - hier: die unbefristete Aufenthaltserlaubnis - kraft Gesetzes über, ohne dass es einer behördlichen Entscheidung bedürfte (vgl. GK-AufenthR, § 101 AufenthG RdNr. 2). Für den Fall, dass dem Ausländer ein neuer Pass ausgestellt wird, hat die Ausländerbehörde in dieses Ausweispapier also lediglich - an Stelle der bisherigen unbefristeten Aufenthaltserlaubnis - eine Niederlassungserlaubnis einzutragen und damit das (Fort-)bestehen des Aufenthaltsrechts zu dokumentieren. Dabei handelt es sich um keine neue Entscheidung der Ausländerbehörde (vgl. Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, § 101 AufenthG RdNr. 8). Auf eine solche bloße Übertragung hat sich die Beklagte aber ausweislich ihrer Akten gerade nicht beschränkt. Vielmehr hat sie zweimal eine Auskunft aus dem Zentralregister eingeholt und vom Kläger mehrfach Unterlagen "für die Prüfung des weiteren Aufenthaltsrechts" angefordert. Schließlich hat sie dem Kläger durch Schreiben vom 07.04.2005 mitgeteilt, die ihm erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis könne übertragen werden, wenn die Voraussetzungen des § 9 AufenthG vorlägen.

Aus dieser Verfahrensweise kann nur der Schluss gezogen werden, dass die Beklagte die Aufenthaltserlaubnis nicht einfach nur in den neuen Ausweis übertragen wollte, sondern dass sie zunächst einmal die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis geprüft hat und darauf zu dem Schluss gekommen ist, die Niederlassungserlaubnis könne dem Kläger erteilt werden. Anders ist der betriebene Aufwand nicht zu erklären, denn das sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Verfahren wäre bei einer bloßen Übertragung des Aufenthaltstitels in den neuen Ausweis nicht erforderlich gewesen.