VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 28.09.2006 - 2 E 1235/05.A (1) - asyl.net: M8833
https://www.asyl.net/rsdb/M8833
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Mandäer aus dem Irak, deren Familienangehörige von Übergriffen durch muslimische Nachbarn betroffen waren.

 

Schlagwörter: Irak, Mandäer, Verfolgungszusammenhang, religiös motivierte Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Glaubwürdigkeit, Bagdad, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Nordirak, Versorgungslage, Existenzminimum
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Mandäer aus dem Irak, deren Familienangehörige von Übergriffen durch muslimische Nachbarn betroffen waren.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist unbegründet, soweit sie auf die Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte gemäß Art. 16a Abs.1 GG gerichtet ist. Denn die Klägerin, die sich zudem im Verwaltungsverfahren im Wesentlichen auf Vorfälle gestützt hat, die ihrem Sohn zugestoßen sein sollen, ist nicht vor politischer Verfolgung aus dem Irak geflüchtet.

Soweit die Klage darauf gerichtet ist, die Beklagte zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG zu verpflichten, ist sie begründet.

Es ist nämlich beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin im Fall einer Rückkehr in ihre Heimat - sie lebte zuletzt in Bagdad - dort wegen ihrer Religionszugehörigkeit erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt wäre. Das Gericht ist aufgrund der Einvernahme des ..., eines Neffen der Klägerin, zu der Überzeugung gelangt, dass die religiös bedingte Bedrohungslage im Irak zu Lasten der Klägerin so konkret und so gravierend ist, dass ihr eine Rückkehr dorthin von Rechts wegen nicht zugemutet werden kann. Der Neffe hat - als Zeuge vom Hörensagen - im einzelnen bekundet, was seinen Eltern, die bis zu ihrer Flucht nach Jordanien im Februar 2006 in Bagdad gelebt haben und mit denen er in regelmäßigem telefonischen Kontakt steht, widerfahren ist. Ihre Kernaussage korrespondiert mit der zusammenfassenden Einschätzung des Deutschen Orient-Instituts, wonach die "Gruppe der Mandäer als solche in einer Situation durchaus sehr hoher abstrakter Gefährdung lebt" (Auskunft vom 01.06.2006 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf, Seite 6). Im Fall ihrer Rückkehr wäre die der gleichen Familie angehörige Klägerin nicht (nur) das wahrscheinliche Opfer "ungerichteter", von terroristischen Gruppierungen begangener Angriffe. Vielmehr müsste sie als Mitglied der ... befürchten, wegen ihrer Religionszugehörigkeit in asylerheblicher Weise von Mitgliedern der islamischen Bevölkerungsmehrheit verfolgt zu werden. Was vom Auswärtigen Amt noch zurückhaltend bewertet wird (vgl. Lagebericht vom 29.06.2006, S.21: "Es ist nicht auszuschließen, dass der Religionszugehörigkeit der Opfer erhebliche Bedeutung für Motiv und Intensität von Verfolgungshandlungen zukommt."), muss in Bezug auf die Klägerin als Gewissheit angesehen werden. Der Zeugenaussage ist eindeutig zu entnehmen, dass Grund für die von Nachbarn sowie unbekannten Personen ausgehenden Drangsalierungen und Angriffe auf die Familie der ... ihre "falsche" Religionszugehörigkeit ist. Asylrechtlich unerheblich ist, dass, wie die Beklagte noch im gerichtlichen Verfahren vortragen lässt, diese von der Bevölkerung ausgehenden konkreten Leibes- und Lebensgefahren dem irakischen Staat nicht zuzurechnen sind. Denn politische Verfolgung im Sinne des Gesetzes kann auch, wie hier, von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (§ 60 Abs.1 Satz 4 Buchstabe c AufenthG).

Da jedenfalls die Mitglieder der Familie der ... konkret mit dem Tod bedroht sind, kommt es nicht darauf an, ob insoweit (schon) von einer alle Mitglieder der Glaubensgemeinschaft der Mandäer betreffenden Gruppenverfolgung gesprochen werden kann. Dass weder der irakische Staat noch die dort stationierten multinationalen Streitkräfte noch irgend jemand sonst im Irak in der Lage ist, der Klägerin Schutz vor Verfolgung zu bieten, liegt angesichts der Auskunftslage, die der Beklagten bekannt ist und auf welche in der mündlichen Verhandlung Bezug genommen worden ist, auf der Hand und bedarf deshalb keiner vertieften Erörterung. Der Klägerin ist es schließlich auch nicht zuzumuten, Zuflucht in den kurdisch kontrollierten Gebieten im Norden des Irak zu suchen. In Dohuk, Arbil oder Sulaymaniya - und nur dort - würde die Klägerin aller Wahrscheinlichkeit nach zwar nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt werden. Ein Leben in diesen Provinzen kann ihr aber nicht als Alternative zur Schutzgewährung durch die Bundesrepublik Deutschland angesonnen werden. Denn ihr drohten dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgungsbedingte Nachteile, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen. Da, wie zur Überzeugung des Gerichts feststeht, die Klägerin keine Verwandten im kurdisch kontrollierten Teil des Nordirak hat, in deren Obhut sie sich begeben könnte, wäre sie den im Nordirak herrschenden prekären wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, die durch anhaltende Binnenwanderungsbewegungen verschärft werden, schutzlos ausgeliefert. Schon eine Unterkunft zu finden, wäre für die Klägerin, die kein kurdisch spricht, nahezu unmöglich (vgl. hierzu die Stellungnahme des UNHCR an das Verwaltungsgericht Stuttgart vom 06.09.2005). Es ist der politisch verfolgten Klägerin nicht zuzumuten, sich in eine solche Situation zu begeben.