OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 29.09.2006 - 3 R 6/06 - asyl.net: M8844
https://www.asyl.net/rsdb/M8844
Leitsatz:

Zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung für irakischen Staatsangehörigen; Verfolgungsgefahr durch Baath-Regime fällt endgültig weg; kein Ausschluss des Widerrufs wegen schlechter Sicherheitslage; keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Kurden; inländische Fluchtalternative für Kurden im Nordirak; keine extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für allein stehenden kurdischen Mann, der wegen seiner Berufsausbildung in absehbarer Zeit im Nordirak Arbeit finden kann; Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3 oder 5 AufenthG können nach Art. 6 der Qualifikationsrichtlinie auch wegen Gefahren durch nichtstaatliche Akteure vorliegen.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Machtwechsel, Schutzfähigkeit, allgemeine Gefahr, Übergangsregierung, multinationale Streitkräfte, Gebietsgewalt, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Genfer Flüchtlingskonvention, Anerkennungsrichtlinie, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Sicherheitslage, Terrorismus, Anschläge, Clans, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Racheakte, Gruppenverfolgung, Kurden, Schiiten, Verfolgungsdichte, Kollaboration, Sicherheitskräfte, Nordirak, interne Fluchtalternative, Erreichbarkeit, Versorgungslage, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, zwingende Gründe, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, nichtstaatliche Akteure, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Aufenthaltserlaubnis, Erlasslage, Bürgerkrieg, Reisewarnung, Auswärtiges Amt, medizinische Versorgung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 2-5; AufenthG § 60 Abs. 7; GFK Art. 1 C Nr. 5; RL 2004/83/EG Art. 2c; RL 2004/83/EG Art. 6
Auszüge:

Zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung für irakischen Staatsangehörigen; Verfolgungsgefahr durch Baath-Regime fällt endgültig weg; kein Ausschluss des Widerrufs wegen schlechter Sicherheitslage; keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Kurden; inländische Fluchtalternative für Kurden im Nordirak; keine extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für allein stehenden kurdischen Mann, der wegen seiner Berufsausbildung in absehbarer Zeit im Nordirak Arbeit finden kann; Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3 oder 5 AufenthG können nach Art. 6 der Qualifikationsrichtlinie auch wegen Gefahren durch nichtstaatliche Akteure vorliegen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der mit Blick auf den Systemwechsel im Irak ergangene Widerrufsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage ist mithin § 73 I 1 AsylVfG in der ab 1.1.2005 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950).

Eine wesentliche Weichenstellung für die hier einschlägige Beurteilung eines politischen Systemwechsels liegt darin, ob nur die Beseitigung des Unrechtsregimes und seiner Verfolgungsmaßnahmen selbst endgültig sein muss oder ob zusätzlich in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung und allgemeinen Gefahren durch stabile Verhältnisse vorherrschen muss. Das Bundesverwaltungsgericht, dem der Senat folgt, stellt allein darauf ab, dass die Beseitigung des Regimes dauerhaft ist (BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, dort für Afghanistan; ebenso BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22/03 -, für den Irak, wobei das Bundesverwaltungsgericht im Wege eigener Tatsachenwürdigung es als ausreichend ansieht, dass das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist und damit Asylberechtigte offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen haben; ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -, S. 11 des amtl. Umdruck, das es genügen lässt, dass das Regime Saddam Hussein seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren hat und eine Rückkehr des alten Regimes nach den aktuellen Machtverhältnissen ausgeschlossen ist).

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Gefahr einer wiederholten Verfolgung wegfällt, und dies hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich für den Irak unter Billigung des Widerrufs entschieden (BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22/03 - zitiert nach Juris).

Klar auseinander zu halten sind die Fragen, ob ein Staat überhaupt besteht und dafür das Erfordernis der Ausübung staatlicher Gewalt prinzipiell erfüllt, und ob in dem Land effektiver Schutz vor Verfolgung sowie vor allgemeinen Gefahren bestehen muss. Damit hat der Kläger Grundsatzfragen mit weit reichender - länderübergreifender - Bedeutung aufgeworfen. Die Fragen sind indes vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1. 11.2005 - 1 C 21/04 - entschieden, und zwar nicht im Sinne des Klägers.

Was zunächst die Frage der Existenz eines Staates angeht, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 - im Gegensatz zur Vorinstanz, dem OVG Schleswig-Holstein, die Existenz von Afghanistan als Staat nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Seite 9 des Juris-Ausdrucks) genügt es, dass eine Übergangsregierung Gebietsgewalt im Sinne einer übergreifenden prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung ausübt; dem stehe nicht entgegen, dass sich die Regierungsgewalt auch auf internationale Truppen stütze. Auch ein ausgesprochen schwacher Staat ist nach diesen Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts ein Staat und die internationalen Truppen werden dem Staat zugerechnet.

Danach ist der Irak eindeutig ein Staat.

Von der Frage der Existenz des Staates Iraks ist die weitere Frage eines effektiven Schutzes durch den Staat Irak als stabile Schutzmacht vor möglicher Verfolgung und allgemeinen Gefahren zu unterscheiden.

Der Kläger zieht die Effektivitätsfrage gewissermaßen vor die Klammer der Verfolgungsprüfung. Vorrangig wird effektiver Schutz geprüft. Fehlt es daran, steht die Verfolgung fest und der Widerruf scheitert. Letztlich hat der effektive Schutz dann absolute Bedeutung für den Widerruf. Der Kläger meint weiter, die Frage des effektiven staatlichen Schutzes sei von dem Bundesverwaltungsgericht noch nicht, auch nicht in seinem Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, entschieden; dem hat die Beklagte widersprochen.

Diese Auslegung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Kläger überzeugt nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 - die nur relative Bedeutung eines effektiven Verfolgungsschutzes herausgestellt, diese Rechtsauffassung jedenfalls konkludent bereits in seinen beiden zuvor zum Irak ergangenen Entscheidungen vom 11.2.2004 - 1 C 23/02 - und vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 - zugrunde gelegt und sodann die Frage einer stabilen Schutzmacht im Beschluss vom 26.1.2006 - 1 B 135.05 - ausdrücklich als nicht entscheidungserheblich bei fehlender Verfolgung behandelt. In seinem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 - (Juris-Ausdruck Seite 6) hat das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung von Widerrufsfällen entschieden, dass nach der auch beim Widerruf anzuwendenden Vorschrift des § 60 I 4 AufenthG eine Verfolgung nunmehr auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (kann), sofern der Staat, wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht die gewissermaßen absolute Bedeutung, dass ein Widerruf ausscheidet. Ein fehlender effektiver staatlicher Schutz vor Verfolgung hat in Widerrufsfällen vielmehr nur die relative Bedeutung, dass vorrangig tatsächliche Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure zu prüfen sind. Die dargelegte Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet, dass effektiver staatlicher Schutz nicht bereits eine Widerrufsvoraussetzung ist; der Widerruf scheitert nicht von vornherein an fehlendem effektivem staatlichen Schutz durch eine stabile Schutzmacht.

In den drei vom Senat aufgeführten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts aus 2004 und 2005 zum Irak und zu Afghanistan ist als gemeinsame klare Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entnehmen, dass in keinem der Fälle die effektive Schutzfähigkeit des Staates gewissermaßen als absolute Anforderung vor die Klammer gezogen wird und der Flüchtling bereits deshalb Verfolgter ist, weil sein Heimatstaat keinen effektiven Schutz durch eine stabile Schutzmacht gegen denkbare Verfolgungen bietet. Vielmehr ist vorrangig für das Bundesverwaltungsgericht, ob asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen nach den maßgebenden Kriterien der Rechtsprechung überhaupt zu befürchten sind. Für den Irak hat das Bundesverwaltungsgericht eine solche Verfolgungsgefahr verneint und bereits deshalb nicht die effektive Schutzfähigkeit des Staates vor denkbarer Verfolgung geprüft. In dem zu Afghanistan ergangenen Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/05 - ist die nur relative Bedeutung des effektiven staatlichen Schutzes vor Verfolgung hervorgehoben.

Dem folgt auch der Senat.

Sodann ist mit Blick auf die Auffassung des UNHCR die Frage zu erörtern, ob nach dem politischen Systemwechsel über den Ausschluss erneuter Verfolgung hinaus auch noch Schutz vor allgemeinen Gefahren durch eine stabile Lage verlangt werden kann. Die Stabilitätsfrage wird also nochmals gestellt, aber nunmehr nicht mit Blick auf die Verfolgung, sondern mit Blick auf allgemeine Gefahren. Auch diese Frage hat grundsätzliche und zugleich länderübergreifende Bedeutung, ist aber vom Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden.

Ungeachtet der rechtspolitischen Vorzüge der Ansicht von UNHCR folgt der Senat der systematisch begründeten Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Widerruf keinen Gefahrenausschluss durch stabile Verhältnisse voraussetzt.

Unter Schutz im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK ist danach ausschließlich der Schutz vor zu erwartenden erneuten Verfolgungsmaßnahmen zu verstehen (BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/06 -).

Ergänzend zu berücksichtigen ist für die Auslegung des deutschen Rechts das Europarecht. Dabei geht es um die Vorwirkung der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - bereits vor dem bevorstehenden Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006.

Inhaltlich führt die europäische Richtlinie aber zu keiner anderen Rechtslage als der bereits dargelegten völkerrechtlichen Regelung der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern sie bestätigt noch zusätzlich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Zusammengefasst ergibt sich aus der dargelegten systematisch überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der rechtspolitisch vorzugswürdigen Ansicht von UNHCR als grundsätzliche Weichenstellung der Widerrufsmaßstab, dass nur der Verfolgungsausschluss maßgebend ist. Die Gefahr von erneuten Verfolgungsmaßnahmen ist nach den Kriterien der Rechtsprechung zu prüfen. Allgemeine Gefahren etwa aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage bleiben bei dem Widerruf außer Betracht (BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04 -; zustimmend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -).

Bereits die Beseitigung eines Unrechtsregimes hat damit entscheidende Bedeutung für den Widerruf, wenn dadurch die Verfolgungsgefahr wegfällt (BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23/02 -, zitiert nach Juris).

Erweist sich die Beseitigung eines Regimes mit dessen spezifischen Verfolgungsmaßnahmen als endgültig, kann über den Wegfall der tatsächlichen Verfolgungsgefahr hinaus ein stabiler Staat weder zum Verfolgungsausschluss noch zum Gefahrenausschluss verlangt werden. Der Staat braucht also nicht stark zu sein.

Das Regime von Saddam Hussein ist mithin nicht durch einen umkehrbaren Putsch oder durch die Intervention eines ähnlich starken Nachbarlandes entmachtet worden, sondern hat den Krieg gegen eine führende Macht der Welt endgültig verloren. In diesem Kriegsverlust liegt ein Unterschied zu dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung erwähnten Vietnamkrieg, in dem das nordvietnamesische Regime von den Amerikanern nicht besiegt und beseitigt wurde und sich erst danach neu etabliert hat. Ausdrückliches und erreichtes Kriegsziel im Irakkrieg war die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein. Der Verlust eines solchen Krieges lässt sich realistischerweise nicht einfach umkehren. Auch der sunnitische Widerstand geht in seiner Einschätzung von einer Übermacht der US-Truppen im Irak und nicht von einem Kräftegleichgewicht aus.

Wenn der Kläger demgegenüber meint, die Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein seien nicht zerschlagen, da das Clan-System existiere und lebensfähig sei, überzeugt das nicht. Zu den Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein gehörten abgesehen von dem Clan vor allem seine Armee, seine Polizei und die Baath-Partei. Seine Armee und die Polizei sind zerschlagen worden, die Baath-Partei ist verboten. Die das Regime tragenden Personen des Machtclans sind vom irakischen Volk abgewählt, zum Teil getötet, und dem Kern des Regimes wird der Prozess gemacht, so dass bei einer Gesamtwürdigung von einer Beseitigung der persönlichen Herrschaftsstrukturen von Saddam Hussein auszugehen ist (so überzeugend OVG Koblenz, Urteil vom 19.5.2006 - 10 A 10795/05.OVG -).

Alle diese Herrschaftsstrukturen sind endgültig zerschlagen.

Weiterhin fürchtet der Kläger wegen der damaligen Weitergabe der Daten der Militärfahrzeuge eine Individualverfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 60 I 4 c AufenthG), und zwar durch das sunnitische Terrorpotenzial, das den neuen irakischen Staat bekämpft. Der Kläger befürchtet einen individuellen Racheakt.

Nach der zutreffenden Einschätzung von UNHCR sind die Koalitionstruppen und die irakischen Sicherheitskräfte, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, nicht im Stande, die Sicherheit vor Attentaten zu gewährleisten (UNHCR, Hinweise von April 2005; Position von September 2005; ebenso UNHCR, Hintergrundinformation vom 5.7.2006).

Mithin ist die Gefahr eines individuellen Attentats auf den Kläger zu prüfen.

In der irakischen Wirklichkeit kommen individuelle Racheakte vor. Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich insbesondere, dass Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der Regierung zusammenarbeiten, mit Racheakten des bewaffneten sunnitischen Widerstands rechnen müssen (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29.6.2006 und schon vom 24.11.2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 3.4.2006; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005 sowie vom 9.6.2004: frühere exponierte Parteimitglieder und Angehörige des früheren Regimes, die die Seite gewechselt haben; keine Berichterstattung über solche Fälle in amnesty international, Jahresbericht 2006).

Zu diesen Personen gehört der Kläger aber nicht, der als bereits ursprünglicher Gegner Saddam Husseins und Anhänger der kurdischen Sache zu keinem Zeitpunkt die Seite gewechselt hat.

Zu prüfen ist sodann die in der mündlichen Verhandlung erörterte mögliche Gruppenverfolgung des Klägers als Mitglied der kurdisch-sunnitischen Volksgruppe durch Terrorkräfte als private Akteure.

Als tatsächlicher Grund für eine solche Verfolgung sind die Terroranschläge im Irak zu prüfen.

Für den bewaffneten irakischen Widerstand stellt die schiitisch dominierte irakische Regierung derzeit den Hauptgegner dar, irakische Truppeneinheiten sind ein bevorzugtes Angriffsziel.

Zu den exponierten Personen gehören nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Personen der Öffentlichkeit wie Intellektuelle, Ärzte, Anwälte, Richter, Menschenrechtsaktivisten, führende Persönlichkeiten irakischer Parteien, religiöse Würdenträger, Medienschaffende und irakische Unternehmer (vgl. die insgesamt sehr umfangreiche Auflistung erhöht gefährdeter Personen des Wiederaufbaus in den Berichten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9.6.2004 und vom 15.6.2005).

Damit vergleichbar sind nach der Einschätzung von UNHCR insbesondere Personen gefährdet, die sich um den Wiederaufbau im Irak bemühen, wie über Regierungsmitglieder und Polizisten hinaus Richter, Rechtsanwälte, Intellektuelle, Ärzte und Journalisten (UNHCR, Hinweise von April 2005 und Positionspapier von Oktober 2004).

Anschlagsziele sind nach der vergleichbaren Darlegung von amnesty international auch Angestellte des öffentlichen Dienstes, Regierungsbeamte, Richter und Journalisten (amnesty international, Jahresbericht 2006).

Auch nach der Würdigung des Auswärtigen Amtes richten sich die Anschläge zunächst vor allem gegen Personen, die mit dem politischen oder wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes verbunden werden.

Der Senat legt für seine Rechtsprechung die im Wesentlichen übereinstimmende Einschätzung des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von UNHCR zugrunde, dass die Anschläge insbesondere auch öffentlichen Personen des Wiederaufbaus im Irak gelten.

Zur terminologischen Klarstellung sei noch darauf hingewiesen, dass teilweise die Personen, die lediglich gegenwärtig am Wiederaufbau teilnehmen, schon deshalb ohne weiteren Vergangenheitsbezug als Kollaborateure angesehen werden (im Gegensatz zu den bereits dargestellten Seitenwechslern).

Dieser weit gefasste Begriff der Kollaboration knüpft allein an die gegenwärtige Wiederaufbaubeteiligung an (ähnlich Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 21.2.2006, wonach kooperations- und beteilungswillige arabische Sunniten von den gewalttätigen Kräften als Kollaborateure angesehen werden).

Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nicht.

Im Falle einer Rückkehr in den Irak ist der Kläger auch als Kurde der landesweiten Gefahr von Terroranschlägen letztlich ebenso ausgesetzt wie die Zivilbevölkerung des Irak, und zwar ohne hinreichenden Schutz der Sicherheitskräfte. Als allgemeine Gefahr für die gesamte Zivilbevölkerung wird die Anschlagswelle auch im Erkenntnismaterial gesehen.

Als Gruppenverfolgung kommt hier die private Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere den sunnitischen Untergrund, in Betracht.

Die allgemeine Anschlagsgefahr kann zugunsten des Klägers nicht bereits als Gruppenverfolgung der Zivilbevölkerung des Irak insgesamt angesehen werden. Das ergibt sich sowohl aus dem erforderlichen Ausgrenzungsgesichtspunkt der Verfolgung als auch aus dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte.

Die Zivilbevölkerung des Irak kann nicht im Ganzen aus dem irakischen Volk ausgegrenzt werden.

Weiterhin fehlt es selbst bei unterstellter Ausgrenzung an dem Merkmal der Verfolgungsdichte.

Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird die notwendige Verfolgungsdichte bei einer großen Gruppe allenfalls noch bei einer Verfolgungsdichte von 1:10 erreicht; dann könnte noch von einer Regelvermutung der eigenen Verfolgung gesprochen werden.

Die dargelegte Anschlagsdichte für die Zivilbevölkerung nach den konkreten Zahlen von amnesty international für Verletzungsopfer von 1:1100 und selbst nach den höheren pauschalen Zahlen des Auswärtigen Amtes von 1:270 wahrt einen sicheren Abstand von der kritischen Verfolgungsdichte von 1:10.

Ungeachtet der landesweit ungewöhnlich hohen Anschlagszahlen im Irak und der problematischen Sicherheitslage besteht nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jedes Mitglied der Zivilbevölkerung allenfalls noch zufällig ohne Entführung und unverletzt überleben kann, in eine ausweglose Lage gebracht wird und das Land verlassen muss.

Bei der Frage der Gruppenverfolgung ist nach der Zivilbevölkerung als größtmöglicher Gruppe auch die Aufgliederung des Irak in große Bevölkerungsgruppen als generelles Verfolgungsmuster in den Blick zu nehmen.

Über derart gezielte Anschläge speziell nach dem Gruppenmerkmal der kurdischen Volkszugehörigkeit wird nicht berichtet. Vielmehr kann insofern nur auf arabisch-kurdische Spannungen in den - nicht unter kurdischer Verwaltung stehenden - multiethnischen Städten Mosul und Kirkuk hingewiesen werden, die sich insbesondere in Autobombenanschlägen zu Lasten der Zivilbevölkerung entladen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, wonach es in Kirkuk 2005 zu über 70 Autobombenanschlägen gekommen ist).

Davon abgesehen steht die kurdische Volksgruppe landesweit nicht derart im Blickfeld des sunnitischen Widerstands wie die schiitische Volksgruppe.

Die Volksgruppe der Kurdinnen und Kurden ist mithin nicht Zielscheibe, sondern landesweit im Wesentlichen Zufallsopfer der Anschläge im Irak. Ausgehend davon ist die Anschlagsdichte für Kurden realistischerweise wesentlich geringer anzusetzen, als es der Maximalabschätzung des Senats mit 1:200 entspricht. Eine landesweite oder auf den Zentralirak bezogene Gruppenverfolgung der Kurden als großer Bevölkerungsgruppe von 5 Millionen Menschen wird im Erkenntnismaterial soweit ersichtlich nicht angenommen.

Unabhängig von dieser landesweiten Betrachtung bejaht der Senat als selbstständige Entscheidungsgrundlage auch die Voraussetzungen einer Fluchtalternative des Klägers in den kurdisch verwalteten Nordirak, in dem seine Geburtsregion Sulaymania liegt.

Die Sicherheitslage in dem kurdisch kontrollierten Nordirak ist nach der praktisch einheitlichen Einschätzung im Erkenntnismaterial bezogen auf Anschläge besser als im Irak insgesamt, insbesondere in Bagdad.

Der kurdisch verwaltete Nordirak ist auch abgesehen von dem möglichen Landweg von Bagdad aus unmittelbar - ohne Aufenthalt in Bagdad - auf dem Luftweg über Arbil (auch: Erbil) seit September 2005 erreichbar.

Weiterhin muss auch das Existenzminimum am Ort der Fluchtalternative einhaltbar sein.

Aus dem Erkenntnismaterial ergibt sich, dass für Rückkehrer sowohl die Aufnahme und Versorgung durch die Familie als auch Parteiverbindungen von erheblichem Vorteil für die die Existenzsicherung sind (amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005).

Daran gemessen mag der Kläger nach seinem Vortrag zwar keine gegenwärtigen familiären Bindungen zum Nordirak haben, immerhin hat er aber bei einer Gesamtbetrachtung eine Chance auf eine Arbeitsmöglichkeit, jedenfalls aber eine Existenzmöglichkeit. Der Kläger war ursprünglich in der Region Sulaymania im Nordirak beheimatet. Er kann seinen Geburtsort im Nordirak und damit ein gewisses Maß an Zugehörigkeit zum Nordirak durch seinen Ausweis jederzeit beweisen.

Zugunsten des Klägers spricht aber weiter, dass der unstreitig erlernte Beruf eines Kraftfahrzeug-Mechanikers wenn auch nach Anfangsschwierigkeiten eine nützliche Tätigkeit ist und damit bei realistischer Betrachtung nach Anfangsschwierigkeiten eine Existenz ermöglicht.

Vor allem muss mit Blick auf die Existenzsicherheit berücksichtigt werden, dass 96 aller irakischen Haushalte Lebensmittelhilfe beziehen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 15.6.2005, dort ohne eine Einschränkung für den Nordirak; nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2006 stammt ein wesentlicher Teil der Lebensmittelrationen, nämlich für 60 % der Bevölkerung, aus einem Programm der Vereinten Nationen).

Nach der Einschätzung des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien ist im Nordirak trotz einer prekären wirtschaftlichen Lage insgesamt mit einem Rutschen unterhalb des Existenzminimums derzeit eher selten zu rechnen (Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten vom 6.3.2006).

Da der Kläger zumindest positive Gesichtspunkte für eine Berufstätigkeit aufzuweisen hat, spricht kein vernünftiger Grund dafür, dass er entgegen der allgemeinen Lage im Nordirak unter das Existenzminimum abrutschen wird.

Weiterhin setzt die innerstaatliche Fluchtalternative nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass dem Kläger an dem Ort der Fluchtalternative keine anderen unzumutbaren Nachteile mit asylerheblicher Intensität drohen, die an seinem Herkunftsort im Sinne des Ausreiseortes so nicht bestünden.

Nach Einschätzung von UNHCR heben sich die Lebensbedingungen im Nordirak positiv gegenüber denen im übrigen Staatsgebiet ab (UNHCR, Position von Oktober 2004).

Auch hinsichtlich des Hilfsantrags hat die Berufung keinen Erfolg.

Der Kläger ist weder der konkreten Gefahr der Folter (§ 60 II AufenthG) noch der Todesstrafe (§ 60 III AufenthG) oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 V AufenthG) ausgesetzt.

Einzubeziehen in die Gefahr sind nunmehr auch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 1 4 c AufenthG. Die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure auch in konkrete Gefahren nach § 60 II ff. AufenthG ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der deutschen gesetzlichen Regelung. Indessen folgt sie aus der für die Auslegung zu beachtenden Vorwirkung von Art. 6 der europäischen Qualifikationsrichtlinie, der die Einbeziehung der nichtstaatlichen Akteure gleichmäßig sowohl für die Verfolgung als auch für den ernsthaften Schaden und mit Letzterem die konkrete Gefahr im Sinne des deutschen Rechts fordert (So überzeugend Renner, § 60 AufenthG Rdnr. 36; offen gelassen im Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -).

Dem Kläger droht hier weder von staatlicher noch von nichtstaatlicher Seite die konkrete Gefahr der Folter.

Sodann fehlt es an der zwischen den Beteiligten streitigen allgemeinen Extremgefahr nach § 60 VII AufenthG.

Was zunächst die Frage der rechtlichen Schutzbedürftigkeit angeht, ist eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 VII AufenthG nur dann geboten, wenn der einzelne Asylbewerber sonst schutzlos bliebe. Ein Schutz vor einer extremen Gefahrenlage kann zum einen durch einen allgemein ausländerbehördlichen Abschiebungsstopp im Sinne einer Duldung bestehen, an dem es aber hier im Saarland fehlt. Es genügt aber nach dieser Rechtsprechung auch ein anderer gleichwertiger Schutztitel vor Abschiebung, wenn dieser tatsächlich besteht. So genügt es, wenn der Ausländer im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder mindestens einer Duldung ist, die vom Asylverfahren unabhängig erteilt worden ist. Ein solcher Aufenthaltstitel muss indessen bestehen, nicht genügend sind unentschiedene Duldungsansprüche. Davon ausgehend lässt der VGH Baden-Württemberg eine Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht zum Schutz des Ausländers genügen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -, der aber diesen Schutz in bedenklicher Weise sogar auf eine widerrufene Aufenthaltserlaubnis wegen des Suspensivseffekts erstreckt, was der vom Bundesverwaltungsgericht verworfenen Schwebelage entspricht).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Kläger besitzt nach der Ausländerakte seit dem 18.11.2004 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ursprünglich nach § 35 AuslG, nach neuem Recht nach § 26 AufenthG.

Zum anderen ist aber auch eine Extremgefahr im Irak zu verneinen (Ebenso OVG Münster, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3590/05.A -).

Auszugehen ist nach praktisch allgemeiner Ansicht von einer instabilen, manchmal eskalierenden Sicherheitslage mit täglich etwa 100 terroristischen Anschlägen.

Die Situation im Irak würdigt der Senat nicht als einen offenen Bürgerkrieg, sondern einen Untergrundkrieg durch tägliche Bombenanschläge.

Die dargelegten seinerzeitigen Verhältnisse in Falludscha 2004 entsprechen aber nicht der jetzigen landesweiten Gewaltsituation im Irak, insbesondere nicht bei einer Betrachtung des Luftweges an den Ankunftsorten, der 5-Millionen-Stadt Bagdad in Zentralirak oder der Stadt Arbil (Erbil) im kurdisch verwalteten Nordirak.

Insgesamt besteht landesweit keine Lage im Irak, die den Rückkehrer bereits am Ankunftsort in Bagdad oder im nordirakischen Arbil (Erbil) in heftige Kämpfe verwickeln würde, was im Sinne der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Bürgerkriegssituationen eine allgemeine Extremgefahr bedeuten würde.

Mit Blick auf die allgemeine Extremgefahr sind nochmals die täglich etwa 100 Bombenanschläge landesweit im Irak zu würdigen. Sie stellen eine enorme allgemeine Bedrohung da (so ausdrücklich Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.6.2006, S. 18).

Nach den konkreten Zahlen von amnesty international werden die zivilen Opfer der Anschläge zwischen 21.239 und 24.106 geschätzt (amnesty international, Gutachten vom 16.8.2005).

Auf der Grundlage der Höchstzahl von 24.106 Opfern beträgt die Anschlagsdichte mithin rund 1:1100. Geht man von der - pauschalen - noch höheren Zahl von Opfern unter den Zivilisten von äußerstenfalls 100.000 aus, die das Auswärtige Amt wiedergibt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.11.2005) ergibt sich landesweit äußerstenfalls eine Verletzungsgefahr durch die Anschläge von 1:270. Damit lässt sich aber nicht - zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - feststellen, ein einzelner Rückkehrer werde alsbald sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert.

Zu einem anderen Ergebnis führen auch nicht Reisewarnungen des Auswärtigen Amts für Reisende. Der Kläger hat sich mit dem VG Sigmaringen darauf berufen, das Auswärtige Amt habe seine Reisewarnung vom 29.7.2005 auf die Anschlagsopfer sowie die Entführungen gestützt (VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2005 - A 3 K 11212/04 -, Seite 9 des amtl. Umdrucks).

In einer solchen Warnung für Touristen und Geschäftsreisende liegt kein Wertungswiderspruch zur Verneinung einer Extremgefahr. Die Warnungen enthalten keine verbindliche Regelung im Sinne eines Schutzes der Menschenwürde, sondern eine unverbindliche Information. Ein Informationsbedürfnis besteht schon wesentlich früher als erst bei einer Situation, in der Reisende sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Die Schwelle für eine Reisewarnung ist wesentlich niedriger und bedeutet als solche keine Extremgefahr.

Auch die mit dem Untergrundkrieg einhergehende angespannte Versorgungslage einschließlich der medizinischen Versorgung im Irak führt nicht zur Bejahung einer Extremgefahr, zumal keine Hungergefahr besteht.