Keine Auslieferung, wenn ausländisches Urteil gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstößt (hier: Staatssicherheitsgericht in der Türkei).
Keine Auslieferung, wenn ausländisches Urteil gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstößt (hier: Staatssicherheitsgericht in der Türkei).
(Leitsatz der Redaktion)
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Auslieferungshaft liegen nicht mehr vor.
Nach dem gegenwärtigen Stand des Auslieferungsverfahrens erscheint es nunmehr unwahrscheinlich, dass die Auslieferung des Verfolgten ... an die Republik Türkei zur Vollstreckung der in lebenslange Haft umgewandelten Strafe aus dem am 15. Juli 1998 verkündeten Urteil des Staatssicherheitsgerichts zu Istanbul, das durch das Gesetz Nr. 5190 aufgelöst und durch das Schwurgericht in Istanbul ersetzt worden ist, für zulässig erklärt werden wird; denn dies dürfte gegen die Vorschrift des § 73 IRG verstoßen, derzufolge die Leistung von Rechtshilfe unzulässig ist, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde.
Inzwischen liegt nämlich die Übersetzung des vom Beistand des Verfolgten zu den Akten gereichten Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 6. Februar 2003 in der Rechtssache ... gegen die Republik Türkei in die deutsche Sprache vor. Gegenstand jenes aufgrund einer Individualbeschwerde des Verfolgten durchgeführten Verfahrens ist dasjenige Urteil gewesen, aufgrund dessen der Verurteilte ausgeliefert werden soll. Im Hinblick darauf, dass den türkischen Staatssicherheitsgerichten vor der Reform vom 18. Juni 1999 stets ein Militärrichter angehörte, hat der EGMR in seinem Urteil vom 6. Februar 2003 (unter Ziff. 36 der Urteilgründe) für Recht erkannt, dass der Staatssicherheitsgerichtshof Istanbul bei der Urteilsbildung und der Verurteilung des Beschwerdeführers kein unabhängiges und unparteiliches Gericht im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 MRK war. Er hat weiter (unter Ziff. 40 der Gründe) an seine Rechtsprechung erinnert, dass ein Gericht, dessen fehlende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erwiesen wurde, unter keinen Umständen für die seiner Gerichtsbarkeit unterstellten Personen ein faires Gerichtsverfahren gewährleisten kann.
Die Entscheidungen des EGMR sind bei der Auslegung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nach der Rechtsprechung des BVerfG (NJW 04, 3407) zu berücksichtigen, sofern sie nicht etwa gegen vorrangiges Recht verstoßen oder beispielsweise mit einem ausbalancierten Teilsystem des innerstaatlichen Rechts unvereinbar sind, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will. Die zuletzt genannten Ausnahmen greifen hier ersichtlich nicht ein.
Danach liegt nach der vorläufigen Einschätzung des Senats in diesem lediglich die Prüfung der Haftfortdauer betreffenden Verfahren ein Verstoß gegen eine elementare Rechtsnorm vor.
Soweit in der an die Justizbehörde Hamburg gerichteten Zuschrift des Bundesministeriums der Justiz vom 4. Oktober 2006 darauf hingewiesen worden ist, dass der Abschnitt aber die Wiederaufnahme des Verfahrens in der türkischen Strafprozessordnung dahin ergänzt worden sei, dass, falls der EGMR in einem rechtskräftigen Urteil einen Verstoß gegen die MRK feststellt, innerhalb eines Jahres ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens bei dem erkennenden Gericht gestellt werden könne, kann dies die Fortdauer der Auslieferungshaft nicht rechtfertigen. Es kann offen bleiben, ob ein solcher Antrag innerhalb der Frist - u.U. in Unkenntnis dieser Möglichkeit - überhaupt nicht gestellt oder aber abschlägig beschieden worden ist. Denn dies würde nichts daran ändern, dass das Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK an einem wesentlichen Mangel litt, der der Auslieferung entgegenstehen dürfte. Die Auslieferung darf nach der Auffassung des Senats, an der sich bei der nach Eingang der angeforderten Stellungnahmen noch zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung voraussichtlich nichts ändern wird, nicht auf ein Urteil gestützt werden, das nach der überzeugenden Entscheidung des EGMR vom 6. Februar 2003 von einem Gericht erlassen worden ist, dem es an der nötigen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit fehlte, zumal nach der Mitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 4. Oktober 2006 in vielen ähnlichen Verfahren eine Wiederaufnahme zum Freispruch des durch ein Staatssicherheitsgericht Verurteilten geführt hat. Zwar hat die Republik Türkei inzwischen die bisherigen Staatssicherheitsgerichte abgeschafft. Die türkische Justiz hat aber das Urteil des EGMR nicht zum Anlass genommen, das rechtsstaatlichen Mindestanforderungen nicht entsprechende Verfahren gegen den Verfolgten von Amts wegen wieder aufzunehmen. Eine Fortdauer der Auslieferungshaft kommt im Hinblick auf die zu erwartende Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung somit nicht in Betracht.