VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 23.11.2006 - 1 E 1213/05.E - asyl.net: M9181
https://www.asyl.net/rsdb/M9181
Leitsatz:
Schlagwörter: Sri Lanka, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Bürgerkrieg, politische Entwicklung, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, willkürliche Gewalt, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Suizidgefahr, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet. Dem Kläger steht der von ihm geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Sri Lanka zu.

Eine solche, die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach der vorgenannten Regelung rechtfertigende konkrete Gefahrensituation besteht für den Kläger entgegen seiner Ansicht zunächst nicht wegen der derzeitigen innenpolitischen Lage in seinem Heimatland. Allerdings ist die Situation in Sri Lanka derzeit durch ein zunehmend auch die dortige Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehendes Wiederaufflammen des Bürgerkriegs zwischen der srilankischen Regierung und der tamilischen Befreiungsbewegung LTTE gekennzeichnet.

Diese auch die Zivilbevölkerung in Sri Lanka unmittelbar betreffende Bürgerkriegslage rechtfertigt die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht. Der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG steht jedenfalls entgegen, dass es sich bei diesen Gefährdungen um Gefahren handelt, denen die Bevölkerung des Landes allgemein ausgesetzt ist, und die folglich nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (allein) im Rahmen von Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 S. 1 AufenthG, d.h. im Rahmen allgemeiner Abschiebungsregelungen der obersten Landesbehörde, berücksichtigt werden.

Aus der Qualifikationsrichtlinie vom 20. April 2004, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006 im Rahmen der Anwendung des innerstaatlichen Rechts unmittelbar anwendbar ist, ergibt sich, anders als der Kläger meint, nichts Gegenteiliges. Zwar ist gemäß Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 c der Richtlinie u.a. solchen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen subsidiärer Schutz zu gewähren, denen im Aufnahmestaat ein ernsthafter Schaden im Sinne einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. Jedoch bestimmt Erwägungsgrund 26 zur Qualifikationsrichtlinie in Übereinstimmung mit der Einschränkung der Schutzgewährung des nationalen Rechts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, dass Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden (im Sinne von Art. 15 c der Richtlinie) zu beurteilen wäre. Es muss sich somit in der Regel um individuelle, gerade im Einzelfall bestehende Gefahrensituationen aufgrund der Auswirkungen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts handeln, denen die Bevölkerung des Landes oder die Mitglieder der Bevölkerungsgruppe, der der oder die Ausländerin angehört, nicht oder nicht in diesem Maße unterworfen ist.

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt, denn der Kläger wäre im Falle der Rückkehr den militärischen Auseinandersetzungen der Bürgerkriegsparteien in seinem Heimatland nicht stärker ausgesetzt als seine Mitbürger.

Der weitergehenden, auch allgemeine Gefährdungen einbeziehenden Auslegung von Art. 15 c der Richtlinie 2004/83/EG durch den UNHCR (vgl. Kommentar des UNHCR vom Mai 2005) kann das Gericht nicht folgen. Die erweiternde Berücksichtigung von allgemeinen Auswirkungen internationaler oder innerstaatlicher Konflikte auf die Zivilbevölkerung widerspricht der aus Erwägungsgrund 26 eindeutig zum Ausdruck kommenden Absicht der Mitgliedsstaaten, die subsidiäre Schutzgewährung in den in Art. 15 c der Richtlinie genannten Fällen regelmäßig auf besondere individuell drohende Gefährdungen zu beschränken und hierdurch eine letztlich grenzenlose Ausweitung der Schutzgewährung zu vermeiden. Eine nicht hinnehmbare Lücke in der Gewährung subsidiären Schutzes besteht nicht, denn der nationale Gesetzgeber hat durch die Ermächtigung zum Erlass allgemeiner Abschiebungsschutzregelungen in § 60 a AufenthG (als gegenüber der Qualifikationsrichtlinie günstigerer Norm nach Art. 3 der Richtlinie) auch solchen Gefährdungen im Rahmen des Erforderlichen und innerstaatlich Möglichen und Vertretbaren Rechnung getragen.

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist im Falle des Klägers aber deshalb anzuerkennen, weil er aufgrund seiner derzeitigen gesundheitlichen Situation im Falle der Rückkehr nach Sri Lanka in eine existenzielle, sein Leben unmittelbar bedrohende Notlage geraten würde.

Wie aus dem im Rahmen des Berufungsverfahrens beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof 5 UE 3197102.A eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten des Facharztes für psychotherapeutische Medizin Dr. L. vom 18. August 2004 und aus dem im vorliegenden gerichtlichen Verfahren vorgelegten ärztlichen Attest des behandelnden Arztes Dr. M. vom 5. Juli 2006 zur Überzeugung des Gerichts hervorgeht, leidet der Kläger an einer schwerwiegenden, fortdauernden posttraumatischen Belastungsstörung als Folge von Verfolgungseingriffen, denen er im Jahre 1984 durch Regierungstruppen und 1989 durch indische Truppen in Sri Lanka ausgesetzt war.

Es bedarf dabei keiner näheren Erörterung, ob angesichts der dargestellten aktuellen Lage in Sri Lanka noch davon ausgegangen werden kann, dass eine posttraumatische Belastungsstörung in Sri Lanka grundsätzlich im notwendigen Umfang medizinisch behandelt werden kann (vgl. hierzu im einzelnen OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. April 2005 - 21 A 2152/03.A -, mit weiteren Nachweisen). Bei dem Kläger liegt nämlich kein "Normalfall" einer posttraumatischen Belastungsstörung vor, bei dem auch unter Berücksichtigung der erhöhten Gefahr der Retraumatisierung durch das Wiederaufflammen des Bürgerkriegs und der hierdurch bedingten Erschwernisse ggf. noch von der Möglichkeit einer adäquaten Behandlung in Sri Lanka ausgegangen werden könnte. Vielmehr liegt bei ihm eine besonders schwere und nachhaltige Traumatisierung vor, die erhebliche weitere Erkrankungen nach sich gezogen hat. Auch unter den in Deutschland gegebenen vergleichsweise optimalen Behandlungsbedingungen ist eine durchgreifende Besserung dieser Erkrankungen im Sinne einer anhaltenden Verarbeitung der erlittenen Traumatisierungen nicht absehbar. Der Kläger hat auch in der mündlichen Verhandlung einen sowohl körperlich wie auch psychisch stark angegriffenen Eindruck hinterlassen. Überdies ist zu berücksichtigen, dass sowohl im Gutachten vom 18. August 2004 als auch in dem ärztlichen Attest vom 5. Juli 2006 eine akute Suizidgefahr für den Fall einer zwangsweisen Rückführung des Klägers nach Sri Lanka heraufbeschworen worden ist.