OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 29.11.2006 - 11 LB 127/06 - asyl.net: M9310
https://www.asyl.net/rsdb/M9310
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Kosten, Aufenthaltserlaubnis, Ehegattennachzug, Familienzusammenführung, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Lebensunterhalt, Leistungen Dritter, selbständiges Schuldversprechen, atypischer Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie
Normen: AufenthG § 30 Abs. 1 Nr. 3; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1; BGB § 780; VwGO § 161 Abs. 2
Auszüge:

Die gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu treffende Kostenentscheidung fällt zu Lasten der Klägerin aus.

Dem nachzugswilligen Ehegatten steht ein Rechtsanspruch nach § 30 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG aber nur zu, wenn auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der §§ 5, 27 und 29 AufenthG erfüllt sind (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: Juni 2005, § 30 AufenthG Rdnr. 10; Renner, AuslR, 8. Aufl., § 30 AufenthG Rdnr. 6; Marx, in: GK-AufenthG, Stand: Dezember 2005, § 30 Rdnr. 1). Dagegen bestehen Zweifel an dem Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).

Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Allerdings bleiben insoweit das Kindergeld und Erziehungsgeld sowie öffentliche Mittel außer Betracht, die auf Beitragsleistungen beruhen (Satz 2). Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen werden bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug berücksichtigt (Satz 3). Die Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG dient dem Zweck, die öffentlichen Haushalte davor zu bewahren, den Lebensunterhalt von Ausländern mit öffentlichen Mitteln sichern zu müssen (vgl. Senatsbeschl. v. 22.12.2.005 - 11 ME 373/05 -, veröffentl. in juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28.2.2006 - OVG 11 S 13.06 -, InfAuslR 2006, 277; Hess. VGH, Beschl. v. 14.3.2006 - 9 TG 512/65 -, ZAR 2006, 145; Renner, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 14 u. § 5 AufenthG Rdnr. 13). Es ist allgemein anerkannt, dass ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Ermittlung des notwendigen Lebensunterhalts die Regelsätze des § 19 ff. SGB II und der aufgrund des § 28 SGB XII erlassenen Rechtsverordnung sind (vgl. Senatsbeschl. v. 22.12.2005, a.a.O.; OVG Berlin, Beschl. v. 10.3.2005 - 2 M 70.04 -, AuAS 2005, 110; Hess. VGH, Beschl. v. 14.3.2006, a.a.O.; Funke-Kaiser, GK-AufenthG, Stand: Mai 2006, § 2 Rdnr. 43.1; Wenger, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Zimmermann/Kreher, Komm. z. Zuwanderungsrecht, 2005, § 2 AufenthG Rdnr. 5; ebenso Nr. 2.3.3.0 der Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums zum AufenthG v. 22.12.2004 und Nr. 2.3.3 der Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG v. 30.11.2005; für die Rechtslage nach dem AuslG vgl. BVerwG, Beschl. v. 4.11.1996 - 1 B 189.96 -, InfAuslR 1997, 156 = NVwZ-RR 1997, 441).

Die Befähigung zur Bestreitung des Lebensunterhalts kann aus eigener Erwerbstätigkeit, eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen verfügbaren Mitteln erwachsen. Im Falle eines Beschäftigungsverhältnisses muss dieses in der Regel unbefristet und nicht gekündigt sein (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 54).

Ferner sind Beiträge der Familienangehörigen in die Berechnung des Haushaltseinkommens einzubeziehen (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 50). Das gilt auch für Unterhaltsleistungen.

Schließlich können auch freiwillige Leistungen Dritter zur Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG beitragen (vgl. Senatsbeschl. v 22.12.2005, a.a.O.; OVG Berlin, Beschl. v. 4.3.2004 - 2 S 14.04 -, InfAuslR 2004, 237; Nr. 2.3.3 der Vorl. Anwendungshinweise des BMI zum AufenthG und Nr. 2.3.6 der Vorl. Nds. VV zum AufenthG). Diese Möglichkeit kommt aber nur ausnahmsweise in Betracht, weil die Sicherung des Lebensunterhalts in der Regel aus eigener Kraft, d.h. in erster Linie durch eigenes Erwerbseinkommen des Ausländers bzw. seines Ehepartner erfolgen soll (so Senatsbeschl. v. 22.12.2005, a.a.O.; OVG Berlin, Beschl. v. 4.3.2004, a.a.O.; Funke-Kaiser, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 55). Freiwillige Leistungen Dritter sind demgegenüber von vornherein mit Unsicherheiten und Risiken behaftet (vgl. etwa Renner, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 18). Es sind deshalb strenge Anforderungen an den Nachweis der Leistungsfähigkeit des Dritten zu stellen. So muss auf jeden Fall gewährleistet sein, dass die entsprechenden freiwilligen Leistungen tatsächlich auch über den erforderlichen Zeitraum erbracht werden. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass ein selbständiges Schuldversprechen nach § 780 BGB oder eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG abgegeben wird (so Nr. 2.3.6 der Vorl. Nds. VV zum AufenthG; ähnlich Hailbronner, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 21; Funke-Kaiser, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 55).

Dem kann die Klägerin nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass sie und ihre Familie in der Vergangenheit keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen haben. Denn der Lebensunterhalt ist auch dann nicht gesichert, wenn es überwiegend wahrscheinlich ist, dass zur Deckung des Bedarfs öffentliche Mittel in Anspruch genommen werden könnten (vgl. etwa Wenger, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 5; Hailbronner, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 20; Renner, a.a.O., § 2 AufenthG Rdnr. 19). Es ist auch weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich, dass die Klägerin selbst in absehbarer Zeit erwerbstätig werden könnte. Dem dürfte bereits die Betreuungsbedürftigkeit ihrer drei Kleinkinder entgegenstehen.

Schließlich hätte voraussichtlich auch das von der Arbeitgeberin des Ehemanns der Klägerin abgegebene und auf zwei Jahre befristete selbständige Schuldversprechen gemäß § 780 BGB mit Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung in Höhe von 950,-- EUR monatlich nicht zu einer günstigeren Prognose führen können. Zwar kann - wie oben ausgeführt - der Lebensunterhalt auch durch Leistungen Dritter gesichert werden. Dabei handelt es sich jedoch um eine Ausnahme. Denn grundsätzlich ist auf die Fähigkeit zur Selbstversorgung und nicht auf die Inanspruchnahme von Fremdmitteln abzustellen, zumal Bonität und Leistungsfähigkeit des Dritten mit Unwägbarkeiten behaftet sind. Ob derartige Schuldversprechen ausreichend sind, kann letztlich nur im Wege einer Einzelfallwürdigung beurteilt werden. Da ein Schuldversprechen im Ausländerrecht der Belastung öffentlicher Kassen vorbeugen soll, kommt es auf den jeweiligen Aufenthaltszweck und die jeweilige Aufenthaltsdauer an (vgl. zu einer ähnlichen Situation im Rahmen des § 84 Abs. 1 AuslG BVerwG, Urt. v. 24.11.1998 - 1 C 33.97 -, BVerwGE 108, 1 = DVBl. 1999, 537). Geht es - wie hier - um einen auf Dauer angelegten Aufenthalt des Ausländers zur Familienzusammenführung, ist zu fordern, dass der Lebensunterhalt dauerhaft gesichert ist. Ein lediglich zweijähriges Schuldversprechen ruft - worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat - die Gefahr hervor, dass der betreffende Ausländer nach Ablauf dieser Zeit von der Gewährung öffentlicher Leistungen abhängig wird. Dies gilt um so mehr, wenn - wie hier - genügend Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der nachzugswillige Ausländer und/oder seine bereits im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen voraussichtlich nicht in der Lage sein werden, durch eigenes Erwerbseinkommen den Lebensunterhalt dauerhaft sicherzustellen.

Demgegenüber kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, dass ein auf zwei Jahre befristetes Schuldversprechen ausreichend sei, weil die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis auch nur für diesen Zeitraum in Betracht komme. Zwar ist es richtig, dass eine Aufenthaltserlaubnis zunächst für ein Jahr erteilt und regelmäßig für jeweils zwei Jahre verlängert wird, längstens jedoch für die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten (vgl. Renner, a.a.O., § 30 AufenthG Rdnr. 13; Marx, a.a.O., § 30 AufenthG Rdnr. 36).

Auf der anderen Seite ist aber zu berücksichtigen, dass die Klägerin und ihre Familie, die nicht in die Türkei zurückkehren wollen, offensichtlich einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet anstreben. Insofern ist es realistisch und sachgerecht, in diesem Zusammenhang den auf Dauer angelegten Aufenthalt zugrunde zu legen.

Dem Verwaltungsgericht wäre voraussichtlich auch darin zuzustimmen gewesen, dass hier kein atypischer Sonderfall vorliegt, der das sonst ausschlaggebende Gewicht der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beseitigen könnte. Ein solcher Ausnahmefall ist etwa dann anzunehmen, wenn die Versagung der Aufenthaltserlaubnis mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar wäre. Dazu gehört vor allem der grundrechtlich gebotene Schutz von Ehe und Familie (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.3.1999 - 1 B 28.99 -, InfAuslR 1999, 332 = NVwZ-RR 1999, 610; Senatsbeschl. v. 22.12.2005, a.a.O.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28.2.2006, a.a.O.). Der Klägerin und ihrer Familie ist die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in der Türkei grundsätzlich zumutbar möglich.